Grablegung.
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Eine zweite Gruppe bildet sich rechts um die ohnmächtig zu-
sammenbrechende Mutter des Herrn, welche eine neben ihr stehende
Frau sanft umfangt und in die Arme einer am Boden knieenden Be-
gleiterin niedergleiten lässt. Eine dritte, die den Kopf der Madonna
mit ihren Händen unterstützt, vollendet diese Gruppe. Mit grosser
Feinheit hat der Künstler diese Episode durch die nach dem Leichnam
des Herrn hinüberblickende Frau mit der Hauptgruppe in Verbindung
gesetzt. Ausserdem bildet diese Gruppe mit der zu Häupten des Er-
lösers angeordneten sowohl in der Anordnung wie sogar in der Figuren-
zahl ein bewundernswürdig abgewogenes Gleichgewicht. Die dreieckige
Oeffnung in der Mitte beider Gruppen gewährt einen Ausblick in die
Frühlingslandschaft, in deren tröstlich klare Heiterkeit die erschüt-
ternde Scene versöhnend ausklingt. Mit der feinsten Berechnung hat
Rafael dem stark ausgeprägten Moment physischer Anstrengung eine
eben so reich abgestufte Schilderung der Seelenvorgänge gegenüber
gestellt. Welche Mühe er sich gegeben hat, die Schwierigkeiten der
Aufgabe zu lösen, sieht man besonders an einer prächtigen Feder-
zeichnung der Oxforder Sammlung (Br. 21), in welcher er die Träger
des Leichnams in nackten Figuren, so wie diesen selbst mit markigen
Zügen hingeworfen hat, während eine andere Zeichnung in den Üffi-
zien (Br. 508) die Hauptgruppe in bekleideten Figuren sorgfältig aus-
geführt zeigt. Aber obwohl dieses Blatt behufs der Uebertragung auf
die Tafel mit einem Netz überzogen ist, gab sich Rafael noch nicht zu-
frieden, sondern änderte nochmals die Composition, indem er die beiden
Träger, den Jüngling und den älteren Mann, in ihren Stellungen ver-
tauschte und die hinter Magdalena stehende, die Arme ausstreekende
Frau fortliess. Dass dagegen die zu Oxford als „Tod des Adonis"
benannte Zeichnung keine Beziehung zur Composition der Grablegung
hat, ist schon anderweitig erkannt worden. Wenn nach alledem das
Bild doch nicht einen unmittelbar hinreissenden Eindruck macht, so
trägt einerseits die darüber ergangene Verputzung die Schuld, denn
trotz der fein abgewogenen Carnation und der kräftigen, doch lichten
und warmen Färbung fehlt jenes feiner abgestufte Helldunkel, welches
der perspektivischen Ausbildung der Gruppe zu entsprechen hätte.
Auch ist eine nicht ganz verwischte Spur von den Mühen des Künst-
lers zu merken, welche den vollen, rückhaltlosen Genuss des Werkes
hemmt. Und doch hat der kaum Q-{ijährige Künstler hier eine Schöpfung
hervorgebracht, die ihn ebenbürtig zu den ersten Meistern der Zeit
gesellte und für die fernere Zukunft auf dem Gebiete dramatisch-_