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Buch.
Kapitel.
RafaePs
Jugend.
lichste Lebensfülle athmet. Dies Bild, ehemals als Madonna Niecolini
bekannt, ist mit der Jahreszahl 1508 bezeichnet. Von ähnlicher Frei-
heit ist die Madonna der Bridgewater Galerie, in Welcher der Künstler
dem auf dem Schoosse der Mutter sitzenden Kinde wieder eine diagonale
Lage gegeben hat, so dass die Composition dadurch eine ungemeine
Lebendigkeit gewinnt. In prächtiger Bewegung schaut der Kleine zur
Mutter auf, die mit sanfter Zärtlichkeit zu ihm niederblickt. Man
beachte namentlich, wie edel der Fluss der Linien ist, wie meisterlich
die Hände der Madonna gelegt und gewendet sind. Endlich möge aus
den zahlreichen Plandzeichnungen wenigstens eine der köstlichsten, ein
Karton in der Albertina (Br. 146) angeführt werden, die zu den voll-
endetsten Meisterschöpfungen vom Ausgang der florentiner Zeit gehört.
Hier sitzt das Kind vor der Madonna auf einem über eine Steinbrüstung
gelegten Kissen und greift eifrig nach einer Frucht, welche die Mutter
ihm mit der Rechten darreicht. Die linke Hand der Madonna ruht
auf dem vor ihr aufgeschlagen liegenden Gebetbuch, als gedenke sie,
nachdem der Kleine beruhigt sei, wieder dazu zurückzukehren.
Um dieselbe Zeit behandelte Rafael nun auch mehrmals jenes
erweiterte Madonnenthema, welches den kleinen Johannes als Gespielen
des Christkindes mit in die Composition hineinzieht und das schon die
früheren Florentiner mit Vorliebe gepflegt hatten. Eins dieser Bilder
lernten wir schon in der Mad. di Terranuova kennen. Die Gruppe
gewann dadurch an Fülle und konnte von breiterer Basis sich besser
pyramidal gipfeln. Diese Form des Aufbaues war zuerst durch Lio-
nardo eingeführt und durch Fra Bartolommeo weiter entwickelt worden.
In offenbarem Wetteifer mit letzterem bemühte sich Rafael, dies künst-
lerische Problem in möglichster Vollkommenheit zu lösen. Grade zu
diesen köstlichen Werken sind noch viele Studien vorhanden, welche
am besten den Beweis liefern, mit welch unermüdlicher Hingebung
der Künstler sich dieser Aufgabe gewidmet hat. Das früheste dieser
Bilder scheint die "Jungfrau im Grünen" im Belvedere zu Wien.
Wie "in allen diesen Compositionen sieht man darauf die Madonna in
lieblicher Landschaft sitzen. Sie beugt sich zu dem vor ihr stehenden
Christkinde nieder, welches sie mit beiden Händen hält. Der Kleine
wendet sich seinem Spielgenossen zu, der vor ihm niedergekniet ist
und ihm das Kreuz überreicht. Dies Motiv geht auf Lionardo zurück,
wie denn auch der Kopf der Madonna in Formgepräge und Süssigkeit
des Ausdrucks an jenen Meister erinnert. Die Gruppe ist noch etwas
schwerfällig im Aufbau, und eine Reihe von Studienblättern beweist,