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Buch.
III.
Kapitel.
RafaePs Jugend.
empfindet man in voller Starke die Wahrheit des Göthdschen YVortes,
dass Rafael immer das gemacht habe, was Andre gern gemacht hätten,
Dieser Composition nahe verwandt ist die Madonna Tempi in der
Pinakothek zu München, die ebenfalls als Halbligur stehend ge-
schildert ist, wie sie in aufwallender Miltterzärtlichkeit mit den beiden
Händen das Kind an sich drückt, so dass das Köpfchen desselben wie
zum Kuss an ihr Gesicht gepresst ist. Wenn in der Madonna del
Granduca noch ein Rest feierlicher Stimmung nachklingt, so ist hier
die rein menschliche Empfindung völlig zur Herrschaft gelangt und
spricht sich mit bezaubernder Innigkeit aus. Das goldige Kolorit mit
seinen weichen, zarten Tönen entspricht der Feinheit der Formen, von
der nur vielleicht die etwas breite rechte Hand, welche den Rücken des
Kindes umfasst, eine Ausnahme macht. Das Bild gehört zu den hold-
seligsten Inspirationen des Meisters. Ueberaus anziehend ist sodann
ein aus Florenz stammendes Madonnenbild beim Lord Cowper in
Pan shanger. Hier sitzt die Madonna mit ihrem Mutterglück still
beseligt in einer feinen Frühlingslandschztft und giebt sich den Lieb-
kosungen des sie stürmisch umhalsenden Kindes hin, das dabei fröhlich
zum Beschauer hinausblickt. Wieder ein anderes Motiv, ungefähr auf
derselben Stufe der Entwicklung, bietet die Madonna aus dem Hause
Orleans, jetzt im Besitz des Herzogs von Aumale in London. Die
Madonna, deren ovales jungfräuliches Köpfchen grosse Verwandtschaft
mit der Madonna Tempi zeigt, sitzt im Zimmer auf einer Bank und
beugt sich liebevoll über das Kind, das in lebhafter Bewegung an
ihrem Mieder nestelt und dabei aus dem Bilde herausblickt. Indem
die Mutter das Kind mit der linken Hand an der Schulter hält und
mit der Rechten das ausgestreckte linke Füssehen desselben stützt,
der Kleine aber mit dem rechten zurückgezogenen Bein sich auf-
zurichten sucht, bildet der Körper des Kindes eine Diagonale, die in
lebendiger Weise den fein abgewogenen pyramidalen Aufbau der
Gruppe durchschneidet. Gerade an diesem Bilde ist es lehrreich zu
beobachten, welche feinen Probleme linearer Composition der Künstler
zu," lösen sucht; aber niemals ist dies Problem an sich für ihn die
Hauptsache, sondern nur ein Mittel, um dem mit der ganzen Innigkeit
der Empfindung behandelten Thema eine neue Wendung abzugewinnen.
Dies ist auch der Grund, warum die Madonnen RafaeYs so hoch über
denen Michelangelds stehen, die meistens nur um eines linearen Pro-
blems willen existiren. Noch einmal kehrt das Motiv der Madonna
Tempi in freierer Auffassung und Umbildung in der früher dem Dichter