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Buch
Kapitel.
RafaePs Jugend.
mehreren Zeichnungen, bei welchen Rafael das von jenem Meister
bevorzugte grüne Papier anwandte und in der vollendeten Modellirung
der Gestalten, in ihrer plastischen und zugleich malerischen Durchbil-
dnng dasselbe technische Verfahren einschlug wie jener. S0 in dem
reizenden Jungtrauenkopf der Sammlung zu Lille (Br. 48), der durch
den wunderbar süssen Ausdruck des Mundes und die niedergeschlagenen
Augen geradezu an Lionardo gemahnt. Eine herrliche Composition
der Krönung Maria im Brit. Museum (Br. 72), ebenfalls auf grünem
Papier mit aufgesetzten weissen Lichtern ausgeführt, zeigt den ge-
mischten Einfluss von Lionardo und Fra Bartolommeo." Von letzterem
namentlich lernte Rafael den einfachen Aeusserungen des Lebens mit
herzlicher Empfindung nachzugehen. Wie sehr beide darin sich auf
demselben Pfade begegneten, beweist der Vergleich mit manchen
Madonnen des Frate. Wir wollen nur auf ein oben erwähntes Studien-
blatt desselben zu dem Altarbilde für das Stadthaus hinweisen, wo der
Kopf der Madonna versuchsweise nach beiden Seiten gewendet ist,
genau so wie es auf einer Zeichnung RafaePs in der Albertina (Br. 149)
vorkommt.
Wenn wir die Madonnencompositionen RafaeYs aus dieser Zeit
in's Auge fassen, so müssen wir zu den wenigen ausgeführten Bildern
die grosse Anzahl von Studien und Entwürfen, welche in den ver-
schiedenen Sammlungen verstreut sind, hinzuziehen, um den vollen
Einblick in die unermüdliche schöpferische Thätigkeit, die sich auf
ein so kleines Thema coneentrirt, zu gewinnen. Die ältere kirchliche
Kunst hatte die Madonna nur als Christusträgerin aufgefasst; sie hielt
daher das anfangs völlig bekleidete Kind stehend auf dem Schoosse,
so dass der kleine Erlöser den Gläubigen mit erhobener Rechten den
Segen spenden konnte. Noch im 15. Jahrhundert blieb diese Auf-
fassung in solchen Schulen vorherrschend, welche lange am Üeberlieferten
festhielten. Bei Rafael kommt dies Motiv nicht mehr vor, wohl aber
macht er sich viel zu schaffen mit einer andern Auffassung, nach welcher
die Madonna ganz in ihr Gebetbuch vertieft dargestellt wird. Das
Christuskind verhält sich dabei sehr verschieden, zuerst noch ziemlich
ruhig, dann aber fangt es an ungeduldig zu werden, sucht sich der
Mutter auf alle Weise bemerklich zu machen und ruht nicht, bis es
diese vom Buche abgezogen hat. Mit inniger Zärtlichkeit weilt dann
der Blick derselben auf dem Kleinen, der herzlich zu ihr aufschaut.
(Fig. 48.) In den Sammlungen zu Oxford, in der Albertina und
anderwärts finden sich zahlreiche Belege. Das Köpfchen der Madonna