Buch.
Kapitel.
der
Kultur
Hochrenaissance.
betrachten, So ergiebt sich denn ein subjectives Hervortreten des
Dichters, der in souveräner Keckheit mit seinem Stoffe schaltet. Wieder
ein Beweis von der frühen und starken Ausbildung des Individualismus
in Italien. Am wenigsten bemerkt man diesen durchaus modernen
Standpunkt bei Bojardo, der in seinem verliebten Roland zwar die
bunte Phantastik dieser Marchen- und Sagenwelt in ihrem kaleido-
skopischen Wechsel dem Auge verführt, aber noch in ernsthafter Weise
das Ritterthum mit seinen idealen Eigenschaften verherrlicht. Dagegen
hatte schon Luigi Pulci in seinem Morgante maggiore den Ton schalk-
hafter Komik angeschlagen und in den Gestalten seines ungeschlachten
Titelhelden und des noch ungeschlachteren Margutte ein possenhaftes
Element eingeführt. Die ganze Frivolität der Renaissancekultur Italiens
kichert aus seinem mit schlüpfrigen Scenen durehwebten Gedichte
unverholcn hervor, und nicht minder keck ist der Spott, den er mit den
heiligsten Einrichtungen der Kirche treibt. Man kann das Sakrament
der Taufe z. B. nicht boshafter verhöhnen, als es im achten Gesangc
geschieht, wo die heidnische Prinzessin Meridiana schleunigst sich taufen
lässt, weil sie nur unter dieser Bedingung Olivierls Liebe erlangen
kann. Was aber in diesen Dichtungen Liebe heisst, ist himmelweit
entfernt von der edlen durchgeistigten Flamme, die wir darunter ver-
stehen, ist ausschliesslich nur roher Sinnengenuss. Nicht minder frivol
sind die Anrufungen Gottes, der Madonna und der Heiligen, mit
welchen jeder Gesang beginnt, wie denn gleich der Anfang des ersten
das Evangelium Johannis travestirt, und im zweiten sogar der für uns
gekreuzigte höchste Jupiter (vsummo Giove, per noi crocifissoa) an-
gerufen wird, beiläufig eins der zahlreichen Zeugnisse für die wunder-
liche Vermischung christlicher und heidnischer Anschauungen. Man
kann sich den Effekt solcher feierlicher Anrufungen, mit welchen der
lascive Ton der nachfolgenden Geschichten oft den seltsamsten Contrast
bildet, bei einer geistreichen, den kirchlichen Superstitionen längst
entwachsenen Zuhörerschaft lebhaft vorstellen; man glaubt ihren Jubel
zu hören, Wenn Margutte sein Glaubensbekenntniss dahin abgiebt: „I1
vero paternostro e il fegatello".
Die höchste Vollendung sollte diese Gattung der Epopöe in
Ariost's Orlando furioso Enden, der bekanntlich als Fortsetzung von
Bojardds Heldengedicht entworfen und ausgeführt wurde. Man darf
an diese Werke nicht mit den Vorstellungen von Homer, oder von
den Nibelungen herantreten; man darf von ihnen nicht die flammende
Begeisterung, die weltentiefe Gedankenkraft, den erhabenen Ernst und