228
Buch.
III.
Kapitel.
RafaePs
Jugend.
Zeit gepriesen. WVar nun in Perugia schon seinem Scharfblick nicht
entgangen, wie sehr im Lauf der Jahre Perugino in der Enge um-
brischer Anschauung befangen blieb und allmählich verknöcherte, so
sah er nun in den Schöpfungen Lionardds, in dem Karton der h. Anna
und dem der Schlacht von Anghiari ein unendlich höheres Lebens-
gefühl, in den Bildern des grossen Meisters eine Steigerung der male-
rischen Mittel, von der er bis dahin nur eine dunkle Ahnung gehabt.
Den Einfluss von Lionardds Formgebung und Malerei können wir in
den Werken RafaePs aus jener Zeit nachweisen. Besonders aber schloss
er sich dem edlen Fra Bartolommeo an, mit welchem er in lebhaften
künstlerischen Austausch trat. Den grossartigeren Zug im Aufbau
kirchlicher Gemälde, den tiefen Schmelz des Kolorits in den Werken
dieses Meisters hat Rafael sich in seiner Weise zu eigen gemacht.
Denn unter den Gaben, mit welchen die Natur ihn verschwenderisch
ausgestattet, war eine der werthvollsten die, dass er mit lebendiger
Empfänglichkeit jede Richtung in sich aufnahm, überall das seiner
Natur Gemässe mit dem sicheren Instinkt des Genius sich aneignete,
ohne jemals an seinem Eigensten dadurch Abbruch zu erleiden. Jeden:
falls waren die florentiner Tage für ihn die Zeit der stärksten künst-
lerischen Gährung. Wie die verschiedenen Einflüsse damals auf ihn
gewirkt, wie der otfne Lebenssinn der Florentiner sich mit der Innig-
keit seiner Empfindung, wie die neue Formenwelt sich mit der aus
Peruginds Schule überlieferten Anschauung mannichfach mischen und
in Ausgleich zu setzen suchen, das liegt in den Werken jener Zeit
klar ausgesprochen.
Ein letzter Nachklang der umbrischen Schule ist die herrliche
Madonna del Granduca, früher in den Privatgemächern der Gross-
herzogin, jetzt in der Galerie Pitti. Die h. Jungfrau ist stehend,
und zwar nach hergebrachter Sitte im Kniestück dargestellt. Sie
hält mit beiden Armen das Kind, welches liebevoll sich der Mutter
anschmiegt. Der holdseligste Zauber jungfräulicher Reinheit durchhaucht
das schöne Bild, welches wie eine höhere Stufe der Madonna Oonne-
stabile erscheint. Der blaue Mantel, welcher halb zurückgeschlagen
den Arm der Maria umhüllt, der Schleier, der das liebliche Köpfchen
einrahmt, die Zartheit der Empfindung, der goldige Ton des Kolorits
entsprechen noch ganz der früheren Weise; aber eine grössere Fülle
des Lebens erinnert an die ersten Eindrücke von Florenz. Einen
stärkeren Durchbruch der florentinischen Anschauungen beweist die
Madonna des Herzogs von Terranuova, ehemals in Neapel, jetzt im