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Buch.
Kapitel.
Jugend.
RafaePs
daran, wie gründlich Rafael in Architektur und Perspektive bewandert
war. Bei der Anbetung der Könige ordnete er, wie schon Gentile da
Fabriano und andere gethan, die Madonna mit dem Kinde in die eine
Ecke des Bildes, so dass der Zug der Verehrenden sich in ganzer
Ausführlichkeit entfalten kann. Hier findet man manche Figuren, die
über den Rahmen der umbrischen Schule entschieden hinausreichen.
Die Darstellung im Tempel, zu welcher der Karton der Mittelpartie
sich in Oxford befindet, verlegt er in eine prächtige, dreischifiige Säulen-
halle; die Anordnung und Zeichnung der Gestalten erinnert wieder
mehr an Perugino; aber auch hier erfüllt doch ein neues Leben die
alten Formen. Hier möge ein herrlicher, in Oxford (Br. 2) befind-
licher Entwurf zu einer Anbetung der Hirten angereiht werden, der
auf derselben Stufe der Kunstentfaltung steht und zu den schönsten
Jugendwerken Rafael's gehört. Hier wie auf den vorher genannten
Blättern erkennt man aus den mit Nadelstichen punktirten Linien,
dass man die Kartone zu den Bildern vor sich hat.
Neben all' diesen religiösen Darstellungen finden sich nun aus
der Jugendepoche RafaePs einige Arbeiten, die ihn auch auf dem pro-
fanen Gebiet der Allegorie und des Mythos bewandert zeigen. Das
eine ist ein kleines, neuerdings nach London in die Nationalgalerie
gelangtes Bildchen, welches im romantischen Geist der Renaissance
Hercules am Scheidewege darstellt. Er liegt als junger Krieger schlum-
mernd unter einem Lorbeerbaum, im Hintergrund eine liebliche Land-
schaft mit einer Stadt und fernen Gebirgen. Da treten zwei Frauen-
gestalten heran, die eine leicht geschürzt, eine Perlenschnur und Blume
in Händen haltend, die andre Würdevoll Buch und Schwert darreichend.
Das überaus anmuthige Bildchen, welches sich ehemals im Palazzo
Borghese zu Rom befand, trägt RafaeYs Namensbezeichnung. Noch
anmuthiger ist ein kleines Bild im Besitz des Herrn Morris Moore,
Apollo und Marsyas in heiterer Frühlingslandschaft darstellend. Ruhig,
mit überlegenem Lächeln blickt der Gott auf den vor ihm sitzenden
Satyr herab, der mit aller Mühe seinem Instrument Melodieen zu ent-
locken sucht. Das Bildchen, zu welchem sich in der Akademie zu
Venedig (Br. 146) der Entwurf befindet, ist von bedeutenden Autori-
täten dem Rafael abgesprochen, von andern ihm zugeschrieben worden.
An Feinheit der Empfindung und miniaturhafter Vollendung eine wahre
Perle, und sicherlich den damaligen Werken RafaePs ebenbürtig, hat
es gleichwohl in der Charakteristik und in der Formbehandlung Züge,
welche eine sichere Entscheidung für Rafael erschweren. Noch zwei