Früheste
Werke RafaeTs.
215
Von den Studien, welche der Schüler unter seines Meisters Lei-
tung im Wetteifer mit einer Anzahl mehr oder minder begabter Genossen
zu machen hatte, gewinnen wir aus seinem Skizzenbuche und anderen
Zeichnungen genügende Vorstellung. Von der gequälten Modell- und
Aktmalerei der heutigen Akademieen war keine Rede. Dagegen wurde
in kleinem Maassstabe ungemein Heissig das Nackte wie die Gewanduug
studirt und überwiegend mit der Feder in kräftigen Linien durch-
geführt, um der Hand volle Freiheit und Sicherheit zu schaffen. Da-
neben kommen auch Zeichnungen in Rothstift, in Kreide", Silberstift,
bisweilen auch mit dem Pinsel vor, für die man dann ein graues oder
grünes Papier wählte und weisse Lichter mit dem Pinsel aufsetzte.
Die mannigfaltigsten Studien nach dem nackten Modell, daneben Genre-
scenen des Alltagslebens, landschaftliche und architektonische Skizzen
waren geeignet, Auge und Hand zu raschem Erfassen der Formen zu
befähigen. Besonders übte sich der junge Künstler auch in den Formen
der Architektur, in perspektivischer Darstellung der Raume und in
den Ornamenten, weil alles Das damals jedem Maler geläufig sein musste.
Für die Uebung im Malen liess der Meister seine eignen Werke oder
einzelne Partieen daraus kopiren.
In S. Pietro zu Perugia zeigt man in der Sacristei den das
Christuskind liebkosenden kleinen Johannes, eine Kopie nach dem im
Museum zu Marseille befindlichen Altarwerk Peruginois, welches offenbar
der letzten Zeit des Meisters angehört, also nicht mehr von Rafael
kopirt werden konnte. Ebenso hat man vergeblich in den Werken
Peruginds nach sicheren Spuren von RafaePs Hand geforscht, obwohl
kein Zweifel ist, dass bei der raschen Entfaltung seines Genius ider
Meister ihn gewiss bald zu seinen Arbeiten mit herangezogen hat.
Dennoch darf man nicht besonders gelungene und vollkommene Arbeiten
Peruginds, wie z. B. die Erzengel Michael und Rafael an dem jetzt
in London befindlichen Altar aus der Certosa von Pavia, ohne Weiteres
dem Schüler zuweisen, der bei aller Bedeutung seines Talents doch
nicht die volle Reife und Sicherheit seines erprobten Meisters besass.
Dieser hatte damals gerade den Auftrag übernommen, den Saal des
Cambio mit Fresken zu schmücken. Dass der siebzehnjährige Rafael
schon ausgebildet genug war, um bei diesen Arbeiten mit zur Hand
zu gehen, kann nicht bezweifelt werden; bestimmte Theile des Werkes
aber auf ihn zurückzuführen, müssen wir um so mehr als problematisch
bezeichnen, als der junge Künstler sich offenbar rasch in die Weise
seines Meisters eingelebt hatte, und sich auch mit der Richtung seiner