Andrea
Sarto.
Bildnisse
und
Zeichnungen.
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Gewalt seiner N aturauffassilng zeugt sodann besonders eine Anzahl von
Studienköpfen in den verschiedenen Sammlungen. Sie sind fast immer
in Röthel ausgeführt, weil dies Material am meisten den farbigen Reiz,
den duftigen Schmelz, die Effekte des Helldunkels wiederzugeben ver-
mag. So der prachtvolle kahlköpfige Alte mit struppigem Bart im
Louvre (Br. 131), der aufwärts blickende junge Mann, dessen Gesicht
ganz in Schatten gesetzt ist (Br. 126), das meisterlich modellirte, in
frappantester Lebendigkeit der Natur abgelauschte junge Mädchen
(Br. 125), der in mächtigerEnergie mit der ganzen Wildniss eines
nie von Kamm und Bürste heimgesuchten Haarwuchses zweimal dar-
gestellte Jüngling (Br. 122) und das abwärts schauende Mädchen, das
in scharfer Seitenbeleuchtung aufgefasst ist (Br. 127). An diese, dem
Louvre angehörenden Blätter schliessen sich einige, nicht minder köst-
liche in den Üfflzien: die prächtig naiven Kinderköpfchen (Br. 412.
413), der leidenschaftliche Manneskopf (Br. 382) und das traumerische,
duftig hingehauchte jungfräuliche Köpfchen (Br. 392). Diese breite
Meisterschaft der Behandlung hat auf die gesammte Folgezeit den
grössten Einliuss ausgeübt; nur haben die Nachfolger nicht mehr die
packende Einfachheit und Wahrheit der Natur zu erreichen vermocht.
Kehren wir zu den Porträts zurück, so darf in den Üffizien
das männliche Bildniss Nr. 1169, das freilich stark überarbeitet ist,
sowie das weibliche Brustbild Nr. 188 ebenfalls ihm zugeschrieben
werden. Dagegen stammt die Mehrzahl der in den Galerieen unter
seinem Namen vorkommenden Bildnisse von der Hand seiner Schüler
und Nachahmer; doch enthält die Sammlung des Lord Cowper in
Panshanger zwei männliche Bildnisse und ein Frauenporträt, welche
sehr gerühmt werden.
Vasari erzählt, Andrea sei nach Rom gekommen, um die Werke
RafaeYs und Michelangelds zu sehen, und die Antiken zu studiren,
sei aber aus Schüchternheit, weil er mit solchen Schöpfungen zu wett-
eifern für unmöglich gehalten, bald nach Florenz zurückgekehrt.
Wir haben keinen Grund, an der Wahrheit dieser Erzählung zu zwei-
feln; im Gegentheil sind die Einflüsse nicht bloss Michelangelds, son-
dern mehr noch RafaePs, dem Andrea in seinen Werken oft so nahe
kommt, eher eine Bestätigung als eine Widerlegung Vasarfs. Ucbrigens
war Andrea bis in seine letzte Lebenszeit mit unverminderter Kraft
künstlerisch thätig. Im Jahre 1530 erhielt er noch den Auftrag, die
Porträts der bei der Belagerung entflohenen Hauptleute und mehrerer
rebellischer Bürger zum schmachvollen Andenken an der Facade der