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Buch.
Kapitel.
übrigen Florentiner
mannichfaltigen Schönheit der Köpfe kündigt sich hier zum ersten Mal
in der florentiner Kunst der neue grosse Stil an. Das Bild wurde im
October 1499 vollendet, also ungefähr gleichzeitig mit Lionardds
Abendmahl und Michelangelds Pieta. So zeigt sich Fra Bartolommeo
als der dritte in der Reihe der grossen Meister, welche die neue Zeit
heraufführen. Trotz der starken Zerstörung des Bildes ist die ursprüng-
lich überaus kräftige und harmonische Farbenstimmting, der trotz einiger
Harten im Ganzen weich verschmolzene Ton noch wohl zu erkennen.
Bei der Ausführung einiger Partieen War Mariotto behülflich. Die
Studie zum Weltrichter befindet sich in den Uflizien (Br. 76); eine
Zeichnung der oberen Gruppe, aber nicht von der Hand des Meisters,
in der Akademie zu Venedig (Br. S); zahlreiche Studienblätter in der
Sammlung der Frau Grossherzogin zu Weimar.
Nach Vollendung dieses Werkes erinnerte sich Baccio seines
Gelöbnisses, trat 1500 bei den Dominikanern zu Prato in den Orden
und wurde nach überstandenem Probejahr unter dem Namen Fra Bar-
tolommeo in das Kloster S. Marco aufgenommen. Seinem künstlerischen
Beruf blieb er indess treu und nahm, ohne Zweifel unter Vermittlung
seines Freundes Mariotto, an den künstlerischen Ereignissen der Stadt
Theil. Die Rückkehr Lionardds, welcher bald darauf der Wettkampf
mit Michelangelo folgte, ging nicht unbemerkt an ihm vorüber; vor
Allem aber schloss Rafael, als er Florenz besuchte und sich für einige
Zeit dort niederliess, sich dem edlen Frate an, dessen Empfindunge-
Weise in ihrer Lauterkeit und Schönheit seinem eigenen Gefühl innig
verwandt war. Beide Künstler traten in lebhaften Austausch, wie
denn Vasari berichtet, Fra Bartolommeo habe Rafael in seine Farben-
behandlung eingeweiht. Wenn er hinzufügt, der Frate habe von diesem
dafür Aufschlüsse über die Perspektive erhalten, so dürfen wir diesen
Theil des Berichtes wohl billig in Zweifel ziehen. Was hätte der
sechs Jahre ältere Meister, der in den Traditionen und Anschauungen
der florentiner Kunst aufgewachsen war, der schon vor Jahren ein
Werk wie das Jüngste Gericht geschaffen hatte, von einem noch so
begabten Jüngling lernen können, der bis dahin den engen Kreis der
umbrischen Kunst nicht überschritten hatte! Im Gegentheil war es
ohne Zweifel der Frate, von welchem Rafael nicht bloss die auf Lio-
nardo's Lehre und Beispiel beruhende meisterliche Farbentechnik, son-
dern auch den edlen Stil in Gewandung und Gruppenbildung, den
grossartigen von freiem Leben durchpulsten architektonischen Aufbau
kennen lernte. Das Gesetz pyramidalerComposition, welches damals