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Buch.
Kapitel.
Buonarroti.
Michelangelo
gekehrten in fast angstvollem Staunen auf Christus blickt, während er
mit der Rechten sich von den Leichentüchern zu befreien sucht und zu-
gleich mit dem rechten Fuss ebenfalls dieser Ümschlingung sich zu ent-
winden strebt. Noch ergreifender wird der Ausdruck durch die dunklen,
von den Tüchern noch halb umhüllten Gesichtszüge, aus denen der Blitz
des Auges geisterhaft vordringt. Die ganze Figur sammt den drei Män-
nern, welche sie aufzurichten und zu befreien beschäftigt sind, bildet
in der Gewalt des Momentanen und der Kühnheit der Verkürzungen
eine Gruppe von solcher Meisterschaft, dass man hier die Einwirkung
Michelangelds vermuthen muss. Dagegen zeigen die Männer und
Frauen, welche in iiehentlicher Bitte, in Erstaunen und Bestürzung
den Heiland ilmringen, namentlich die vor ihm knieende Schwester
des Lazarus, und der auf der andern Seite ebenfalls knieende Alte
die entschiedensten Einflüsse RafaePs. Andere Köpfe wieder, wie der
ausdrucksvolle, im Profil dargestellte jüngere Mann links im Mittel-
grunde haben etwas Venezianisches. Doch sind diese verschiedenen
Elemente mit solcher künstlerischer Kraft harmonisch verschmolzen,
dass das Bild mit Recht seinen hohen Ruf verdient, und nur der etwas
gewöhnliche Kopf Christi lässt jenen hohen Geistesadel vermissen, der
hier erforderlich wäre. Ohne Zweifel ist das Ganze von machtvoller
Lebendigkeit und dabei in gewaltiger Farbenwirkung durchgeführt.
Dennoch darf man nicht verkennen, dass die Lichtwirkung etwas
zerstreut und zerrissen ist, und dass die prächtig gedachte Hauptgruppe
sich nicht entschieden genug von der Umgebung heraushebt. Man
hat den Eindruck, dass die Composition nicht coloristisch gedacht, dass
zwischen Erfindung und Ausführung eine gewisse Kluft vorhanden ist.
Von poetischer Wirkung ist der Hintergrund mit der schön durch-
geführten Flusslandschaft, in der man um so uneingeschränkter den
Venezianer erkennt, da Michelangelo sich niemals auf landschaftliche
Darstellungen eingelassen hat.
Schon vorher war Sebastiano mit Rafael in die Schranken ge-
treten, als beide im Auftrage Franz I. einen h. Michael im Kampf
mit Lucifer schufen. Während aber Rafaefs Bild sich jetzt noch im
Louvre befindet, ist dasjenige seines Nebenbuhlers verschwunden. Da-
gegen bewahrt das Louvre ein anderes, von diesem Künstler für den
König ausgeführtes Bild, welches mit dem Namen Sebastianus Venetus
und der Jahrzahl 1521 bezeichnet ist. Es ist eins seiner grossartigsten
und edelsten Werke, das in Reinheit der Empfindung RafaePs würdig
erscheint. Die Heimsuchung Maria ist dargestellt; die h. Jungfrau, von