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Buch.
Kapitel.
B uonarroti.
Blichelangelo
süss bcstrickenden Anmuth Lionardds, schon hier in einem Zuge gross-
artig melancholischer Schönheit die Richtung Michelangelds ausgeprägt.
S0 in dem edlen weiblichen Kopfe derselben Sammlung (Br. 65), von
welchem die Uffizien (Br. 183) eine Wiederholung besitzen. Ein andres
Blatt dieser Sammlung (Br. 188) enthält in Kreide den ausdrucksvollen
Kopf einer Alten und zwei schöneFrauenköpfe, bei welchen durch
zierlich angeordnetes Haar, Schleier und Diadem wieder mit der Grazie
Lionardds gewetteifert wird. Ganz herrlich in seiner grossartigen
Melancholie ist ein weiblicher Kopf in Windsor (Nr. 18); und in der-
selben Sammlung zeigen die oben besprochenen Blatter, dass Michel-
angeln, wo es ihm darauf ankam, mit liebevollster Sorgfalt solche
Arbeiten auszuführen vermochte. Stets aber ist es ein plastisches
Herausarbeiten der Form, dem er nachgeht, während Lionardo auch
in_seinen Zeichnungen vor Allem die malerische Wirkung erstrebt.
Zu den leidenschaftlichsten Compositionen gehört noch in Windsor
(Nr. 2G) eine figurenreiche Schilderung der Auferstehung Christi; der
Auferstandene selbst, der sich mehr wie ein antiker Titane als wie
ein christlicher Gottessohn gebärdet, kehrt ebendort in einer anderen
herrlichen Zeichnung (Nr. 19) Wieder.
Uebrigens finden sich selten Studien nach der Natur; sparsam
scheint Michelangelo das lebende Modell benutzt zu haben, und in der
That sind die meisten Conceptionen seiner Figuren und Gruppen von
einer Kühnheit, Momentanitat und Gewalt, dass sie nur aus der In-
spiration, nicht aus der Anschauung der Wirklichkeit geschöpft werden
konnten. Während Lionardo fast Alles aus der äusseren Anschauung
des Lebens gewinnt, schöpft Michelangelo aus den unergründlichen
Tiefen seiner inneren Anschauung, und die erstaunliche Meisterschaft
der Darstellung, die wunderbare anatomische Kenntniss gestattet ihm,
seine Inspirationen mit siegreicher Macht zu verwirklichen.
Eine so eigenartige künstlerische Persönlichkeit vermochte sich
nicht in einer Schule fortzupilanzen. Doch schlossen sich manche
Künstler ihm an, denen er bei seiner bekannten Leutseligkeit öfter
Zeichnungen und Entwürfe zur Ausführung überliess. Dahin gehört
Marcello Venusti, der aus der florentinisehen Schule hervorgegangen
war und seine erste Ausbildung, wie es scheint, durch Perin del V aga,
also in RafaePs Schule, erhalten hatte. Die kleinen Formen und die