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Buch.
KapiteL
Buonarroti
Michelangelo
immer verräth sich auch in solchen Verirrungen der grosse Gedanke,
die mächtig treibende Empfindung, die ihnen zu Grunde liegt. Es
war eben der Zeitpunkt gekommen, wo die subjective Empfindung alle
Fesseln der Ueberlieferung sprengte, und Michelangelo war durch seine
Natur und seine Stellung dazu bestimmt, diesem neuen Geiste in grossen
epochemachenden Werken Ausdruck zu geben. Je höher aber das
freie Individuum in schrankenloser Selbstbestimmung steigt, desto näher
liegt die Gefahr der Verirrung. S0 War es denn natürlich, dass gerade
von den grandiosesten Schöpfungen Michelangelds die manieristischen
Ausschreitungen der späteren Zeit ihren Ausgang nahmen.
Der Charakter des grossen Mannes steht als einer der reinsten
da, welche die Kunstgeschichte kennt. Von frühauf in der schweren
Schule des Lebens erzogen, hatte er gegen eine ganze Kette von Wider-
wärtigkeiten zu kämpfen. Fast alle seine bedeutendsten Schöpfungen
hatten, wie wir gesehen, das Unglück, nicht nach seiner Idee aus-
geführt oder später verunglimpft zu werden, viele und darunter höchst
werthvolle und wichtige gingen unter oder sind verschollen. Eine
Reihe von Zeichnungen zu Dante's Divina Commedia Wurden die Beute
eines Schiffbruchs; die Leda, eins der wenigen Tafelbildei" Michel-
angelds, ging in Frankreich verloren; ebenso eine Anzahl von Zeich-
nungen, Modellen und Kartons, die er sammt der Leda seinem Schüler
Antonio Mini geschenkt hatte, _um aus dem Erlös die Aussteuer für
dessen zwei Schwestern zu bestreiten; eine Kette von Mühsalen und
VViderwärtigkeiten war der Bau von S. Peter, dessen Wirkung oben-
drein später durch Maderna's Veränderungen erheblich abgeschwächt
wurde. Rechnet man noch dazu die Leiden, welche ihm der Unter-
gang der ilorentinischen Freiheit bereitete, so darf man wohl sagen,
dass niemals ein Künstler von ähnlicher Bedeutung in gleichem Grade
die empfindlichsten Schläge eines feindseligen Schicksals erfahren hat.
Eine minder grosse Natur wäre solchen Widerwärtigkeiten er-
legen, hatte sich entweder in feiges Verzagen oder zu hochmüthigem
Trotz geflüchtet. Nichts beweist stärker die Charaktergrösse Michel-
angelds, als dass er sich nicht beugen liess, sondern unverbrüchlich
treu seine Bahn verfolgte und immer von Neuem nach dem Ideal
strebte, das sein ganzes Leben erfüllte. DerKern seines Wesens
war ein ethischer, den alle Kämpfe nur läutern, alle herben Schicksale
nur erheben konnten. Wohl erschien er der Welt abstossend, herb;
aber die ächte Charaktergrösse des nach dem Höchsten ringenden
Geistes wird stets eine gewisse Einsamkeit um sich sehen. Wohl