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Buch.
Kapitel.
Michelangelo
Buonarroti
mächtig gesteigertes physisches Leben in den athletischen nackten
Figuren, keine Spur mehr von der Charakteristik, die christlichen
Heiligen zukommt. Zu beiden Seiten dieser Mittelgruplae, die sich
wie ein Kranz darstellt, sind zahlreiche Schaaren von Heiligen zu-
sammengedrängt, rechts zumeist Männer, links grösstentheils Frauen,
von denen Viele sich Wieder mit den Werkzeugen ihres Martyriums,
Kreuz, Säge, Rad, Pfeile u. dgl. heranbewegen, als wollten sie ihren
Anspruch auf die Seligkeit geltend machen. Während zur Linken
die Gruppen wiederum an einem Uebermaass des Herkulischen leiden,
und aus dem Gliedergewirr nur im Hintergrund einige herrliche Scenen
des Wiedersehens aufleuchten, sind auf der Rechten unter den weib-
lichen Gestalten überraschende Züge von Anmuth, die indess ebenfalls
mehr dem Gebiet des allgemein Menschlichen als des Christlichen an-
gehören; am schönsten die vordere Gruppe, wo eine am Busen und
zum Üeberfluss auch am Schenkel entblösste Frau liebevoll schützend
die Hand über ihre Tochter ausstreckt, welche in banger Erschütterung
ihr Haupt an die Seite der Mutter birgt und dort Zuflucht sucht.
Weiter oben hat der Künstler die beiden Bogenfelder mit Gruppen
von Engeln gefüllt, welche die Marterwerkzeuge Christi in mächtigem
Anstürmen herbeibringen. Auch hier fallen Wieder mehrere athletische
Gestalten auf, welche sich mit dem Kreuz und der Martersäule schleppen;
am schönsten die kleinere Gruppe links, welche mit Geissel, Nägeln,
Dornenkrone der grösseren vorausschwebt. Es sind aber wieder keine
Engel, sondern nackte Athleten.
Betrachten wir nun die untere Hälfte des Bildes. Hier fällt zu-
nächst unterhalb der Gruppe Christi und der Apostel eine Anzahl von
Engeln auf, die mit furchtbarer Gewalt in die Posaunen des Gerichts
stossen und die Bücher des Lebens und des Todes aufschlagen. Auch
hier herrscht jene leidenschaftliche Anspannung aller Kräfte, die den
Grundzug des ganzen Bildes ausmacht. Auf beiden Seiten daneben ist
die Luft erfüllt von einem dichten Gewimmel aufschwebender Gestalten.
ZuriRechten ist es mehr ein ruhiges, aber doch angstvolles Aufschweben,
voll Ausdruck innigen Flehens, banger Sehnsucht, wobei eine Anzahl
hülfreicher Engel die von irdischer Schwere noch halb befangenen
Gestalten hinaufzuführen strebt. Zur Linken aber, wo die Verdammten
empor zu steigen suchen, entwickelt sich ein wilder Kampf mit allen
Zeichen des Entsetzens, der Wuth, der Verzweiflung. Die Dämonen
der Tiefe klammern sich an die Ünglücklichen, die zugleich von oben
her durch Engel mit Blaustschlägen zurückgestossen werden. Hier sieht