116
Buch.
III.
Kapitel.
Buonarroti
Michelan gelo
Er geht darin sogar weiter als der Gegenstand selbst erfordert, wenn
er Gottvater mit nacktem Oberkörper darstellt, oder in der Sündüuth
und dem Wunder der ehernen Schlange ganze Knäuel von nackten
Gestalten verführt. Man darf wohl daran erinnern, dass die griechische
Plastik auf ihrem Höhepunkt eine weise Abwechslung zwischen be-
kleideten und unbekleideten Figuren walten lässt. Die Giebelgruppen
des Parthenon sind dafür der schönste Beweis. Dort ist mit feiner
Berechnung das ausdrucksvolle Spiel nackter Glieder in der pulsirenden
Fülle des Lebens in Contrast gesetzt mit den reicheren und ver-
schlungeneren Motiven des Faltenwurfs, in welchem Gestalt und Be-
wegung der organischen Natur vielfach gebrochen wird. Indess hat
Michelangelo wenigstens in seiner Gesammtcomposition für ähnliche
Contraste gesorgt, denn gegenüber den meist nackten Gestalten der
Genesis und allen jenen architektonisch dekorativen Figuren, in welchen
die Lust an der schönen Menschengestalt zu hellem Jubel atlsschlägt,
halten die Propheten und Sibyllen, sowie die Vorfahren Christi das
künstlerische Recht der bekleideten Gestalten mit einer nicht minder
zu bewundernden Schönheit und Mannichfaltigkeit aufrecht. Dass nach
strengerer Anschauung eine solche Fülle nackter Gestalten in ein
christliches Gotteshaus nicht gehöre, War eine Betrachtung, die jener
Zeit unendlich fern lag; fanden wir ja ebenso auf seinem Madonnen-
bilde in der Tribuna Gruppen nackter Gestalten, die dort jedenfalls
weit unberechtigter waren. Der reine hohe Sinn des Meisters würde
solche Bedenken sicherlich mit der Erwägung niedergeschlagen haben,
dass alles Schöne in Natur- und Menschenleben dem Dienste des Herrn
geweiht sei.
Endlich bleiben noch die freien Phantasiegestalten zu besprechen,
mit Welchen der Künstler das Gerüst der Architektur ausgestattet hat.
Hier ist mit einer wahren Lust das unermessliche Reich menschlicher
Schönheit in anmuthigen Kindern, besonders aber in ruhenden, liegenden
und sitzenden Jünglingsgestalten erschöpft. Zum Herrlichsten gehören
die einzelnen sitzenden Gestalten, welche die vorspringenden Gesims-
theile krönen, stets neu in ihren Bewegungen, nicht selten kühn und
gewagt in den Stellungen, aber von hinreissender Lebendigkeit, Wahr-
heit und Schönheit. (Fig. 25). Die Medaillons, welche zwischen ihnen
angebracht sind, haben Reliefs mit Scenen aus dem alten Testament.
Auch unter den bronzefarbenen Gestalten, Welche die freien Flächen
der Gewölbzwiekel bedecken, indem sie in symmetrischer Gruppirung
aber in grosser Mannichfaltigkeit der Bewegung anlehnend, stützend,