102
Buch.
Kapitel.
Michelangelo
Buonarroti.
Schaft des Malers
bunden war.
und
des
Bildhauers
diesem
gTOSSGII
Genius
Schreiten wir nun zur Betrachtung des Einzelnen, so haben wir
an der dem Eingang gegenüberliegenden Altarseite zu beginnen. Zu-
nächst die Geschichten der Genesis. Das erste kleinere Bild enthält
die Scheidung des Lichtes von der Finsterniss. Es ist das einzige der
ganzen Reihe, welches man von der Seite betrachten muss. Aus dem
Chaos taucht die riesige Gestalt Gottvaters auf, vom weiten Mantel
mächtig umrauscht. Er schaut hinauf, den Bewegungen seiner aus-
gestreckten Arme folgend, welche die uralte Nacht auseinander reissen.
Das zweite grössere Bild umschliesst zwei Schöpfungsakte. Rechts
schwebt Gottvater aus dem unermesslichen Weltenraume heran (Fig. 16),
gebieterisch die Arme ausstreckend, um Sonne und Mond ihre Bahnen
anzuweisen. Ein Sturm scheint in seinem langen Bart zu wehen, und
der herabgeglittene Mantel umspannt wie ein Zaubermantel eine Gruppe
von Engeln, in denen seine schöpferische Macht sich vervielfältigt aus-
spricht. Links sieht man die Gestalt Gottes nochmals und zwar von
der Rückseite, wie er in raschem Dahinschweben die Erde segnet, dass
sie Kräuter und Pflanzen hervorbringe. Ein Meisterstück der Ver-
kürzung. Diese Doppelerscheinung gieht in genialer Weise den Ein-
druck des Blitzartigen, Visionären.
Auf dem dritten Bild sehen wir abermals Gottvater heranschweben
und die Hände segnend über die Gewässer ausbreiten, dass es Thiere
nach seiner Art hervorbringe. Hier umfängt der Mantel wie ein
grosser Schleier die Gestalt, zugleich eine Anzahl von Engeln um-
schliessend. Michelangelo hat in diesen drei ersten Bildern die Gestalt
des Schöpfers mit elementarischer Urgewalt ausgestattet und das Ur-
bild einer Majestat geschaffen, wie die christliche Kunst weder vorher
noch nachher es hervorzubringen vermochte. Zugleich ist die Stei-
gerung und Mannigfaltigkeit der Erscheinung bewundernswerth; man
fühlt sich wie vom Sturmhauch dieser ersten Schöpfungstage ergriiifen.
Bei den beiden folgenden Bildern, welche der Schöpfung des
Menschen gelten, bleibt die Gestalt Gottes nicht minder grossartig,
aber sie gewinnt etwas menschlich Nahbares. Zunächst sehen wir ihn,
wieder vom weiten Mantel umrauscht und von Engeln umgeben, aus
dem unendlichen Aether heranschweben und eine einsam aufragende
Klippe streifen, auf welcher noch in dumpfen Halbschlaf versunken der
erste Mensch liegt (Fig. 17). Herrlich ist in Jugendschönheit die Gestalt
hingegossen, der noch die Schwere der Erde in allen Gliedern liegt. Halb