Kapitel.
Byzantinisch-Rornanische
Epoche.
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einander entbrannt waren. Aus diesem Chaos feudaler Zustände ringt
sich aber immer mächtiger die Bedeutung einzelner grosser Städte
empor, die von den Kaisern Privilegien erhielten, ihre alte Municipal-
Verfassung mit kräftiger Hand neu gestalteten und durch Handel und
Gewerbe aufblühten: Vor Allem Venedig, durch seine glückliche Meeres-
lage und seine Verbindung mit dem Orient früh zu Reichthum gelangt;
dann Amalü, Pisa und Genua. Von diesen mächtigen Städten eenten
die ersten Regungen zur Neugestaltung der Kunst ausgehen; aber auch
Jetzt blieb dabei der byzantinische Eintiuss maassgebend. Am meisten
in Venedig, wo die etwa seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts
prachtvoll erneuerte Markuskirche sogar den byzantinischen OentraL
und Kuppelbau aufnimmt. Im weiteren Verlauf des 11. Jahrhun-
(lerts erbaute dann Pisa seinen wundervollen Marmordom, zwar als
fünfschiftige Säulenbasilika, aber doch mit einer Kuppel auf der Vierung.
Noch entschiedener tritt diese byzantinische Tendenz im Dom zu An-
cona auf, der auch die Centralanlage wieder kräftiger betont. Daneben
dringen vom Norden Einiiüssc der dortigen Architektur ein, und zwar
namentlich der deutschen, die sich besonders in der Ornamentik mit
dem Gepräge germanischer Phantastik geltend machen. S. Zeno in
Verona, S. Ambrogio in Mailand, S. Michele in Pavia bezeugen deutlich
diesen Einfluss, der sich bis dicht an die Schwelle des Kirchenstaates,
bis nach Sta. Maria in Toscanella erstreckt. Nur Rom selbst, von
inneren Parteiungen und wüthenden Fehden mehr zeriieischt als irgend
eine andre Stadt, bewegt sich unausgesetzt immer noch in den aus-
getretenen Geleisen der altchristlichen Kunst und wiederholt in den
damals entstandenen Kirchen stets von Neuem die Form der Basilika,
ohne ihr irgend ein neues Moment der Entwicklung einzufügen. Nur
dass Alles in geringeren Dimensionen und dürftigerer Ausführung er-
scheint, wobei immer noch die antiken Denkmäler geplündert und die
Reste ihrer Säulen, Architrave und Friese stets willkürlicher und roher
verwendet werden. Die Rohheit dieser Architektur findet vielleicht
ihre Erklärung an der allgemeinen geistlichen und sittlichen Barbarei
des damaligen Rom, denn während in Frankreich, und mehr noch in
Deutschland in den Klöstern die Wissenschaften, so weit in der da-
maligen Zeit überhaupt davon die Rede sein konnte, blühten, tleissige
Klosterbrüder unablässig" die antiken Klassiker studirten und durch
Abschriften verbreiteten, und die Nonne Roswitha in Gandersheim
lateinische Schauspiele schrieb, war in ganz Italien, besonders aber in
Rom die Unwissenheit so gross, dass die Bischöfe Frankreichs öffentlich