Kapitel.
Schule
Die
Venedig.
VOU.
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die Kreuzpartikel darstellt, wiederum durch die eingehende Schilderung
des damaligen Venedig überaus fesselnd. Sodann folgen seit 1511 die
Darstellungen aus der Geschichte des h. Stephanug für die Scuola di
S. Stefano, welche jetzt in verschiedene Sammlungen verstreut sind,
Die Brera zu Mailand besitzt die Disputation des Heiligen mit den
Schriftgelehrten von 1514, überaus naiv und lebendig, mit trefflichen
Köpfen, aber im jetzigen Zustand etwas hart und ohne Luftton. Im
Museum zu Berlin sieht man die Einweihung des Stephanus zum
Diakon vom Jahr 1511, vortrefflich in klarer, feiner Abtönung, reich
an prächtigen, scharf modellirten Gestalten in orientalischen Gewändern
auf einem landschaftlichen Grunde von phantastischer Felsbildung, Die
Predigt des Steplianus besitzt die Galerie des Louvre, ein tageshelles
Bild von köstlicher Klarheit und feiner Carnation, reich an lebens-
vollen Gruppen wiederum in prächtigen orientalischen Kostümen mit
interessantem architektonischen Hintergrund. In der Galerie zu Stutt-
gart befindet sich die Steinigung des Stephanus vom Jahre 1515, bei
welcher man wieder erkennt, wie die Darstellung bewegten Handelns
die schwache Seite dieser Schule ist. Ausserdem erscheint das Bild
bunt und hart in Folge übler Behandlung. Ungefähr derselben Zeit
gehört die Darstellung Maria im Tempel (Fig. 156), sowie die Ver-
lobung der h. Jungfrau, beide Bilder in der Brera, von derselben naiv
genrehaften Auffassung. Originell ist bei dem ersteren im Vorder-
grund ein Hirtenknabe, Welcher ein Reh am Stricke hält. Weitere
Werke ähnlicher Richtung bieten die Marter der Zehntausend in der
Akademie zu Venedig, und die Heimsuchung in der Galerie Correr
daselbst.
Bei dieser vorwiegenden Neigung zur Umdeutung der h. Ge-
schichten in's zeitgenössisch Genrehafte hat sichtlich ein starker Ein-
fluss der flandrischen und deutschen Kunst stattgefunden. Damit ver-
bindet sich eine Vorliebe für orientalische Kostüme, welche der Künstler
nicht bloss in Venedig, sondern vielleicht auch als Gefährte Gentile
Bellini's in Constantinopel studirt haben mag. Wir besitzen von ihm
dann auch eins der frühesten wirklichen Genrebilder der modernen
Kunst; zwei prächtig gekleidete Venezianerinnen, auf einem Balkon
mit ihrem Schoosshündchen spielend, von einem Pagen, einem Pfauen
und allerlei Vögeln begleitet, im Museum Corrcr.
Das eigentliche Andachtsbild ist nicht die starke Seite Carpaccids;
es fehlte ihm dafür offenbar der feierliche Ernst Bellini's, der Sinn
für grossartigen Aufbau, die Innerlichkeit der Empfindung, Ein