Kapitel.
Die
Schule
Venedig
V01]
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Crivelli scheint sich dann in Ascoli niedergelassen zu haben, wo
er für die meisten Städte in den Marken seit 1468 so Zahlreiche Werke
geschaffen, dass noch jetzt eine grosse Zahl derselben dort zu finden.
Wir verzichten darauf, alle diese Werke zu erwähnen und begnügen
uns damit, einige der bedeutendsten Arbeiten hervorzuheben. Dahin
gehört in der Nationalgalerie zu London ein aus vielen Theilen zu-
sammengesetztes Altarstück vom Jahre 1476 aus S. Domenico in Ascoli:
im Mittelfelde die Madonna mit dem Kinde auf einem mit Frucht-
gewinden geschmückten Throne. Hier kommt eine freiere Anmuth
zum Durchbruch, besonders in dem herzigen Christuskinde, das neu-
gierig über die Hand der Mutter sich vorbeugend hinabblickt. Da-
neben auf besondren Feldern vier Heilige, ebensoviele in der zweiten,
oberen Reihe und nochmals in den Giebelkrönungen. Die alterthüm-
liche lose Zusammenstellung einer Anzahl von Einzeliigilren ist hier
also noch unverändert beibehalten. Vom Jahre 1481 besitzt die Galerie
des Lateran in Rom eine thronende Madonna, vom folgenden Jahre
sodann die Brcra eine Madonna mit vier Heiligen, die den Künstler
wieder in stetigem Fortschritt zeigt, die knöchernen Hände und das
etwas starre Gesicht der Madonna sind zwar noch Merkmale alter-
thümlicher Befangenheit, aber die Gediegenheit und die flandrische
Pracht der Farbe beim Festhalten an der Tempera bewundernswerth.
Auch die Verkündigung vom Jahre 1486 in der Nationalgalerie zu
London, die beiden Madonnen und die beiden Darstellungen derPieta
in Dudley-House daselbst, die ungemein grossartigen Tafeln mit den
h. Hieronymus und Augustinus in der Brera (weit roher, offenbar
von Schülerhand ebendort zwei andre Tafeln mit je drei Heiligen-
figuren), ferner in derselben Sammlung ein Gekreuzigter mit Maria
und Johannes, wiederum von übertriebener Schmerzensgrimassc, aber
intensiver Farbe und energischer Form, endlich eine grössere Compo-
sition der Pieta in der Galerie des Vatikan, von mächtiger Dramatik,
gehören ungefähr derselben Entwicklungsepoche an.
Als Ascoli 1489 sich von der päpstlichen Herrschaft losriss und
Ferdinand von Aragonien die Thore öffnete, wurde Crivelli 1490 zum
Ritter erhoben und nennt sich seitdem auf seinen Bildern stets nmiles"
oder veques", was für die Zeitbestimmung der etwa nicht datirten
Werke zu beachten ist. Zu welcher Tiefe, Leuchtkraft und Schönheit
der Farbe der Künstler sich damals zu erheben vermochte, beweist
die köstliche Madonna in der Brera, aus S. Domenico zu Camerino
(Fig. 15O), bei welcher ein Rest alterthiimlicher Befangenheit den