Kapitel.
V01]
Die Schule
Venedig.
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Venedigs geweiht hatte, durch den Spruch des Rathes der Zehn seines
Amtes entsetzt ward und, auf seinen Stab gestützt, aller Abzeichen
seines hohen Ranges entkleidet, die Riesentreppe hinabstieg, murrte
zwar das Volk, unterwarf sich aber dem Verbote der Staatsinquisitoren,
von dieser Angelegenheit nicht mehr zu reden. Nur solch eiserne
Macht, nur die absolute Rücksichtslosigkeit, die vor keiner Grausamkeit
zurückbebte, vermochte ein Staatswesen aufrecht zu erhalten, in wel-i
chem die Traditionen der Kriegfuhrung und Diplomatie in der kleinen
aristokratischen Genossenschaft forterbten, deren Namen im „Goldenen
Buche" verzeichnet standen.
Nachdem schon früh die Küstenstriche Dalmatiens und Istriens
in die Macht Venedigs gelangt waren, denen sich bald die Eroberung
Kandiafs und der meisten Inseln des Aegäischen Meeres anschloss,
wurde 1381 die mehr als hundertjährige Fehde mit Genua durch den
glänzenden Sieg Carlo Zeno's bei Chioggia glorreich geendet, Venedig
aus der höchsten Gefahr befreit und zur unbestrittenen Seeherrschaft
erhoben. Unaufhaltsam stieg nun die Macht der Lagunenstadt zu
ihrem Gipfel empor. Schon 1386 wurde Korfu erobert; daran reihten
sich Erwerbungen in Griechenland, namentlich die Einnahme von
Korinth, Patras, Lepanto; und als Pietro Loredan bei Gallipoli die
überlegene türkische Flotte vernichtete, gab es für die Herrschaft
Venedigs auf lange Zeit keine Hemmung mehr. Um die Verbindungen
mit der terra ferma und den Hinterländern zu sichern, folgten nun
neue Eroberungen auf dem Festlande: seit 1404 wurden Vicenza,
Feltre, Belluno, dann Verona und Padua, weiterhin ganz Friaul, Ber-
gamo, Brescia, Cremona und Ravenna unterworfen. Schon 1423 um-
fasste die Republik ein Gebiet von 2000 Quadratmeilen, und die Ein-
wohnerzahl der Stadt belief sich auf 190,000 Köpfe. Die Häuser
Venedigs hatten einen Schätzungswerth von sieben Millionen Ducaten
und einen Miethertrag von einer halben Million. Der Gesammtumsatz
des Handels belief sich auf zehn Millionen, die einen Jahresertrag von
vier Millionen abwarfen; die Staatseinnahmen wurden auf eine Million
jährlich veranschlagt. Die Handelsmacht war vertreten durch 3000
Fahrzeuge, 300 grössere, 45 Kriegsgaleren, mit 19,000 Seeleuten und
10,000 Schiffbauern. Als 1489 die damals blühende Insel Cypern
erworben wurde, war der Gipfel der venezianischen Macht erreicht.
Bald darauf erhielt sie durch die siegreich vordringenden Türken und
mehr noch durch Entdeckung des Seewegs nach Ostindien (1498) den
Todesstoss.