Sechstes
Kapitel.
Die
Schule
VOII
Umbrien.
Der obere Tiber mit seinen Seiteniiüssen durchströmt ein Hügel-
land, das von den westlichen Abhängen der Apenninen begränzt wird
und von jeher, abseits von den Herden eines bewegteren politischen
Lebens, in der stillen Zurückgezogenheit weltabgeschiedener Gebirgs-
thäler sich erhalten hat. Die Landschaft selbst zeigt nicht die gross-
artigen Formen des Thales von Florenz oder gar die feierliche Majestät
der römischen Campagna; sie erinnert in ihren bescheideneren Linien
an die mittleren Gebirgsgegenden Deutschlands. Ein sanfter Friede
scheint sich über die Gefilde zu breiten, in welchen Spoleto, Foligno,
Spello sich gebettet haben: kühner ragt auf weitschauender Höhe Assisi
mit den gewaltigen Massen seines Klosters empor, und auch Perugia,
ähnlich wie Siena auf strahlenförmig gegliedertem Gebirgsgrat ver-
streut, bietet höhere landschaftliche Reize. In diesen Gegenden erhielt
sich durch das ganze 15. Jahrhundert eine innigere religiöse Empiin-
dung, die sich in engen selbstgezogenen Schranken genügte und in
der Malerei einen entsprechenden Ausdruck fand. Bezeichnend für
solche Grundstimmung ist, dass die in ähnlichen Kreisen abgeschlossene
Kunst von Siena auf diese Gebiete vorzüglich einwirkte, am meisten
durch Taddeo di Bartolo, der in Ümbrien mehrfach thätig war. Als
dann im weiteren Verlauf die mächtig fortgeschrittene ilorentinische
Kunst auch auf diese Kreise ihre Anziehungskraft übte, blieb doch
die religiöse Grundstimmung davon unberührt und äusserte sich bei
grösserer Durchbildunglebensvoller Gestalten mit einer schwärmerischen
Weichheit lyrischer Empfindung, welche sich selbst zur Höhe religiöser
Ekstase aufgghwingt, So entsteht hier in dem unabsehbar reichen
Bilde der italienischen Kunst eine neue Schattirung, die wunderbare
Tiefe desselben noch bestimmter hervorhebend.