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Buch.
Frührenaissance.
Die
herab und winken den hinaufschauenden Auferstandenen, um sie zur
Herrlichkeit des Paradieses zu geleiten. (Fig. 122.) Auf der andern
Seite sieht man die Schaaren der Verdammten, von Teufeln gepeinigt,
verzweiflungsvoll an den öden Ufern des Acheron umherirren, wo der
grause Fahrmann sie unerbittlich von seinem Naehen fern halt, wah-
rend oben in den Lüften zwei hünenhafte kriegerische Engel mit
Schwertern mitleidvoll hinabsehauen und den Eingang zum Himmel
versperren. S0 mischen sich auch hier wieder antike und mittelalter-
liche Anschauungen. Daran schliesst sich an der rechten Wand die
grosse Darstellung der Verdammten, die von unheimlichen Teufels-
gestalten mit allen erdenklichen Qualen gcpeinigt werden. Es ist ein
wilder Knäuel voll Entsetzen, wo die Phantasie des Künstlers die dä-
monischen Anschauungen des Alterthums mit denen des Mittelalters
zu einer Scene erschütternder Tragik zusammenfasst. Inden Lüften
sieht man einerseits drei gewaltige Kriegergestalten von Engeln, die
mit ihren Schwertern den Eingang des Himmels bewachen, während
einzelne kühne Eindringlinge, hauptlings die Luft durehsausend, zurück-
geschmettert werden, eine andre dieser armen Seelen von einem Teufel
auf dem Rücken zum Flammenpfuhl hinabgetragen wird. Hier ist die
Quelle der gewaltigsten Inspirationen Michelangelds. Daneben folgt
dann die Auferstehung alles Fleisches, in unvergleichlicher Kühnheit und
Mannigfaltigkeit der Gruppen. (Fig. 123.) Einige ringen sich mühsam
auf den Posaunenschall zweier in der Luft erscheinenden Engel aus der
Erde los, andere drücken mit ergreifender Wahrheit das Wonnegefühl
wiedererlangten Lebens aus, Während wieder andere sehnsuehtsvoll zum
Himmel hinaufschauen. Den Abschluss bildet die Eingangswand, wo
man links von der Thür die von Blitzstrahlen niedergeschmetterte
Menschheit sieht, während rechts die Zerstörung Jerusalems mit allen
Seenen des Entsetzens das Herannahen des jüngsten Tages verkündigt,
Sonne, Mond und Sterne aus ihren Bahnen weichen, und im Vorder-
grund eine Gruppe von Philosophen in orientalischem Kostüm mehrere
in straffe Zeittracht gekleidete Krieger auf die ungeheuren Ereignisse
aufmerksam machen.
Nach Vollendung dieses grossartigen Cyclus finden wir den Meister
wieder in seiner Vaterstadt, WO er hochgeachtet und mit ansehnlichen
Aemtern betraut den Abend seines Lebens in rastloser Thätigkeit hin-
brachte. Nach Florenz wurde er 1508 in einer Gesandtschaft von
seiner Stadtbehörde geschickt, und ebenso gehörte er 1512 zu der
städtischen Deputation, welche die Medici zu ihrer Rückkehr beglück-