408
Buch.
Frührenaissance.
Die
Cortonescn. Zur vollen Freiheit seines Wesens gelangt er aber erst
bei den Wandgemälden. Da er hier die letzten Dinge darzustellen
hatte, so konnte er mit vollen Zügen die ganze Tiefe seiner anato-
mischen Kenntnisse zur Geltung bringen. Zunächst schuf er sich durch
ein System gemalter Pilaster und Friese voll geistreicher Arabesken,
grau auf Goldgrund, eine Gliederung der grossen Flächen in einzelne
rechtwinklige Felder, die durch prachtvolle Friese von den grossen
Bogenfeldern getrennt werden. In die unteren Wandfelder verlegte er
Medaillons mit Bildnissen Dante's, Virgil's und anderer bedeutender
Männer, die er mit kleineren auf dieselben bezüglichen Darstellungen
aus Dante's Inferno, aus Virgil's Aeneis u. dgl. schmückte. Die
Zwischenräume bedeckte er mit einer solchen Fülle phantastischer
Groteskcn, dass kein Werk des ganzen 15. Jahrhunderts auch nur
annähernd einen ähnlichen Reichthum zeigt. Es ist die übersprudelndc
Erfindungsgabe der Frührenaissance in ihrer berauschenden Üeppigkeit,
zugleich das stärkste Zeugniss von der Vermischung des Christlichen
mit dem heidnisch Profanen, das freilich der Begeisterung der damaligen
Zeit nicht im Lichte des Profanen erschien. Diese Darstellungen sind
ebenfalls grau auf goldnem Grunde, der mit bunten Arabesken durch-
zogen ist, ausgeführt.
Den Beginn der Hauptdarstellungen bildet links die Erscheinung
des Antichrist (Matth. 24. 24). Es ist eine unheimlich dämonische
Gestalt, die, auf einem Postament stehend, unter Einilüsterung des
Teufels das Volk zu verführen sucht. Unvergleichlich wahr ist der
mannigfach abgestufte Ausdruck hingerissenen Lauschens in den Zu-
hörern; so namentlich der junge Mann, der die Arme in die Hüften
stützt und den Kopf halb zur Seite wendet, um besser zu verstehen.
Daneben links eine Gruppe voll Grausen, wo aus dem Himmel Strahlen
niederfahren, um den Satan und seine Genossen zu zerschmettern.
Gruppen von disputirenden Mönchen, von heilungsuchenden Kranken
füllen den Mittelgrund, wo man einen prachtvollen Tempel mit Säulen-
hallen die Scene abschliessen sieht. Vorn in der linken Ecke hat der
Maler sich selbst und Fiesole dargestellt. Das zweite Bild derselben
Wand bringt im herrlichsten Gegensatz zu dieser ßcene des Entsetzens
die Auserwählten, die in schön bewegten Gruppen mit dem Ausdruck
sehnsuchtsvollen Verlangens hinaufschauen, wo schöne Engel sich zu
ihnen neigen, um sie zur Seeligkeit empor zu fuhren, andere einen
ewigen Frühling von Rosen über sie ausschütten, während ein Chor
auf Wolken sitzender Engel ein himmlisches Concert anstimmt. Der