Kapitel.
Umbrisch-toskanische
Schule.
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Fiesole unvollendet gelassene Ausschmückung der Madonnenkapelle des
Domes zum Abschluss brachte. Erst hier erscheint der sechzigjährige
Meister auf der vollen Höhe seiner Kunst und schafft eins jener grossen
Monumentalwerke, welche den höchsten Ruhm der italienischen Malerei
ausmachen. Zuerst vollendete er die von Fiesole begonnenen Malereien
des Gewölbes, für welche man ihm zwar nicht die verlangten 200
Dukaten bewilligte, aber ausser den Gerüsten, dem Material sowie
Gold und Ultramarin 180 Dukaten sammt freier Wohnung und zwei
Betten. Alle übrigen Bestimmungen des Contrakts beweisen, mit wel-
cher Umsicht und Sorgfalt man bei solchen Anlässen verging. Als er
später geltend machte, dass er bei diesen Bedingungen nicht bestehen
könnte, gab man ihm eine Vergütung in Korn und Wein. Für die
grossen Gemälde an den Wänden forderte er 600 Dukaten; die spar-
same Domverwaltung handelte davon 25 Dukaten ab, bewilligte ihm
aber dafür wieder freie Wohnung, Korn und Wein. Im August 1502
war das grosse Werk vollendet.
Der ganze Raum sollte nach dem Evangelium Matthai 24 eine
Darstellung der letzten Dinge enthalten: Auferstehung, Gericht, Himmel
und Hölle. Den Weltrichter mit seinen himmlischen Schaaren hatte
Fiesole am Gewölbe zu malen begonnen (vgl. S. 274). Für die Wand-
felder blieb nun die Schilderung der Auferstehenden und des jüngsten
Gerichts. Eine divina Commedia von riesigem Maassstab ist das Ganze,
erfüllt von dem grandiosen Geist eines Dante, aber nicht mehr gebun-
den an die veralteten Anschauungen früherer Darsteller. Neu, gross,
gewaltig ist die Welt, die der kühne Meister auf diesen Flachen un-
vergleichlich ausgebreitet hat. Die Raumgliederung geht davon aus,
dass über dem Altar am Gewölbe der Weltrichter erscheint; zu seiner
Rechten (also dem Eintretenden links) sind die Chöre der Seligen und
Auserwählten, zu seiner Linken die Verdammten dargestellt. Zunächst
malte Signorelli am Gewölbe nach Fiesole's Vorlagen die Madonna mit
den Aposteln und die Engel mit den Marterwerkzeugen, als Ergänzung
des von Fiesole begonnenen Kreuzgewölbes. Obwohl er hier in der
Composition noch abhängig von seinem Vorgänger ist, verrathen die
Köpfe und der Wurf der Gewänder die gewaltige 'Wll(3l1t seines eigenen
Stiles. Noch mehr gilt dies von den Gemälden des vorderen Kreuz-
gewölbes, wo er die Kirchenvater, die Patriarchen, die heiligen Jung-
frauen und die Märtyrer darstellte. Auch hier verbindet sich in dem
feierlichen Aufbau ein Nachklang Fiesole's auf's Glücklichste mit der
plastischen Grösse und der energischen Charakterfülle des gewaltigen