Kapitel.
Schule.
UmbriscH-toskanis ch e
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Eine durchaus verwandte Richtung finden wir bei einem anderen
Künstler jener Gegend, der sich nach seiner Heimath Melozzo da Forli
nennt und den Beweis liefert, dass die bei Piero wirkenden Einflüsse
den Weg auch über die Apenninen zu finden wussten. Melozzo zeigt
in der llfeisterschaft der Perspektive und der architektonischen Hinter-
gründe, ebenso Wie in dem strengen Realismus der Auffassung solche
Verwandtschaft mit Piero, dass er in seinen Arbeiten mehrfach mit
diesem verwechselt worden ist. Doch verbindet sich mit diesen Eigen-
schaften wieder ein starker Zusatz jener Gefühlswärme, die wir als
umbrisch bezeichnen müssen. Um 1438 geboren, hat er ohne Zweifel
in seiner frühesten Entwicklung Einfiüsse des Piero della Francesca.
empfangen. Aber auch von Mantegna mag er durch seinen Landsmann
Ansuino von Forli, welcher neben dem grossen paduaner Meister in
den fünfziger Jahren bei den Eremitani- zu Padua beschäftigt war,
berührt worden sein. Giovanni Santi preist ihn in seiner Reimchronik
als seinen theuren Melozzo, der in der Perspektive so Grosses leiste.
Sein Name taucht zuerst in Rom auf, wo er etwa um 1460 im Auf-
trage des Herrn von Pesaro ein Madonnenbild copiren musste, welches
man dem h. Lucas zuschrieb. Ebendort schuf er dann sein erstes
bedeutendes Werk in den Fresken der Apsis von Sti. Apostoli, welche
er 1472 im Auftrage des. Kardinals Riario, eines Nepoten Sixtus des IV.,
ausführte. Leider wurde dies grossartige Werk im Anfang des 18. Jahr-
hunderts zerstört, und nur einzelne Figuren wurden gerettet. Den
aufschwebenden Heiland sieht man jetzt im Treppenhause des Quiri-
nals, mehrere Bruchstücke "von Aposteln und musicirenden Engeln
sind in der Sacristei von St. Peter aufgestellt. Was bei allen diesen
Werken am meisten überrascht, ist die Kühnheit der Verkürzungen,
in denen sich das vollkommene perspektivische Wissen des Künstlers
mit souveräner Meisterschaft ankündigt. Es ist das erste Beispiel jener
Umwälzung der künstlerischen Grundanschauungem- welche an Stelle
des strengen architektonischen Rhythmus der früheren Zeit selbst bei
den feierlichsten Aufgaben die unbedingte Herrschaft der Wirklichkeit
und der Gesetze des natürlichen Erscheinens stellte. Correggio sollte
später diese Richtung wieder aufnehmen und zu den letzten Consequen-
zen führen. Diese Tendenz tritt aber nicht etwa in ruhig abmessender
Ueberlegung, sondern mit schwungvoller Begeisterung auf. die in den
schwebenden jubilirenden und musizirendcn Engeln fast etwas Bacchan-
tisches hat. Die Kühnheit der Verkürzungen, die von einem über-
irdischen Sturm gepeitschten Gewänder, die glanzvolle Jugendschönheit