Kapitel.
Umbrisch-toskanische
Sch ule.
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Zweifel dauerte sein Aufenthalt in Florenz lange genug, um ihn völlig
mit der Strömung der dortigen Kunst vertraut zu machen. In der
That finden wir, namentlich in seinen früheren Werken, starke An-
klälnge an Andrea del Castagno, vor dessen herber, bis in's Unschöne
gehenden Kraft der Charakteristik das, was in Piero an umbrischer
Grefühlsweise war, sich auf längere Zeit fast völlig verllüchtigte. Er
tritt nun in die Reihe derjenigen Künstler, welche an der Wissenschaft-
lichen Begründung der Malerei bedeutenden Antheil haben; mit dem
berühmten Mathematiker Fra Luca Pacioli scheint er in freundschaft-
lichen Beziehungen gestanden zu sein, wie dieser selbst in seiner Pro-
portionslehre bezeugt, und seine eignen Forschungen über die Perspek-
tive hat er in einem erst neuerdings wieder aufgefundenen Traktat
niedergelegt. In seinen Bildern verräth sich nicht bloss eine unge-
wöhnliche Kenntniss der Gesetze linearer Perspektive, sondern auch
eine feine Abtönung der Farben durch sorgfältige Beobachtung der
verschiedenen Luftschichten. Für diese rein malerische Tendenz kamen
ihm die Bestrebungen seines Meisters Domenico Veneziano in Aus-
bildung der Oeltechnik zu Statten, deren weitere Entwicklung keiner
der gleichzeitigen Mittelitaliener in solchem Maasse gefördert hat wie
Piero. Denn man darf nicht vergessen, dass die ähnlichen Bestrebungen
der Pollajuoli und des Verrocchio einer etwas späteren Zeit angehören.
Damit verbindet endlich der Meister von Borgo S. Sepolcro eine
Kenntniss der klassischen Architekturformen, in welchen er sich als
Schüler, wenn nicht als ebenbürtigen Genossen von Brunellesco und
Leo Battista Alberti ankündigt. Wenn diesen grossen Vorzügen gegen-
über das umbrische Schönheitsgefühl eine Zeitlang zurücktritt und der
Realismus mit herber Sehroffheit die Überhand gewinnt, so darf man
daran erinnern, dass in den späteren Werken Pierds die lange unter-
drückte Anmuth sich Wieder zu Tage ringt.
Wenn Vasari Recht mit der Behauptung hat, dass Piero mit
seinem Meister nachmals in Loreto thättig gewesen und dass er dann
von Nicolaus V. nach Rom berufen werden sei, um im Vatikan Fresken
auszuführen, so lasstvsich von diesen angeblichen Arbeiten keine Spur
mehr nachweisen. Mit achtundzwanzig Jahren aber (1451) arbeitete
er für Sigismondo Malatesta von Rimini, einen jener furchtbaren Ge-
waltherrscher des damaligen Italien, in welchen sich auf hoch phan-
tastische Weise glühende Ruhmbegier, leidenschaftliche Liebe für Kunst
und Wissenschaft mit ruchloser Lasterhaftigkeit verbanden. Durch
jede Art von Verbrechen seine Herrschaft behauptend, hatte er von