Viertes
Kapitel.
Die
Schule
VOII
Siena.
Bei Betrachtung der florentinischen Kunst war uns zu Muthe,
als standen wir am wohl angebauten Ufer eines breiten Stromes, der
auf seinen mächtigen Wogen Hunderte von reich beladenen Fahrzeugen
trägt und weithin in offenem Verkehr die Länder verbindet. Neben
solchen Strömen trifft man nicht selten Verlassene Flussbetten, von
welchen die Bewegung sich zurückgezogen hat; das zurückgebliebene
Wasser ist in Stagnation übergegangen; Röhricht und Weidengebüsch
umsäumt die stillen Ufer, über welche ein passiv träumerisches Binnen-
leben die wehmüthige Poesie der Einsamkeit und Verlassenheit ausgiesst.
Aber in diesen ruhigen Gewässern spiegelt sich oft der Himmel in
seiner ganzen Klarheit. Diesen Eindruck empfängt man von der Malerei
des 15. Jahrhunderts in Siena. War schon in der vorigen Epoche der
Gegensatz der sienesischen Kunst zur ilorentinischen ein grosser, so
steigert er sich jetzt beim Herannahen einer neuen Zeit auf's Höchste.
In demselben Maasse als der Zug zu lebensvoller dramatischer Schilde-
rung, welcher den Florentinern im Blute steckte, mächtig gefordert
wurde durch die neuen Tendenzen, welche in die Kunst eindrangen,
erhielt die Neigung zu innerliehem Versenken, zu brütendem Gemüths-
leben, das den Sienesen angeboren war, durch die Richtung auf Natur-
wahrheit und Weltwirklichkeit eher eine Trübung als eine Förderung.
Am feierlich aufgebauten Andachtsbild, welches den Hauptgegenstand
der sienesischen Malerei ausmacht, wurde in einer alterthümelnden
speciiisch kirchlichen Behandlungsweise festgehalten. Sogar den Gold-
grund des Mittelalters trägt die sienesische Malerei in die neue Zeit
hinein; nirgends erheben sich lebenswarme Gestalten auf landschaft-
lichem Hintergrunde; der freie Blick in die Natur, in Wald und Feld,
in bewegtes Meuschentreiben bleibt den Sienesen versagt. Auf diesem