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II. Buch.
Die Frührenaissance.
Chor mit Darstellungen aus dem Leben der Madonna und der Heiligen
Stephanus und Laurentius, denen sie gewidmet ist, geschmückt. Der
Chor, nach gothischer Weise aus dem Achteck geschlossen, zeigt an
den Gewölbkappen die Verkündigung, die Verlobung Maria, die Geburt
Christi, die Anbetung der Weisen, die Himmelfahrt und Krönung der
Jungfrau. Unten an den Wänden sieht man, wie der h. Laurentius
Almosen austheilt, angeklagt und verhört wird; dann folgt die Taufe
seiner Jünger und sein Martertod. Auf der rechten Seite Scenen aus
dem Leben des h. Stephanus, seine Predigt, sein Verhör und sein
Uartertod. Die Wandbilder sind wesentlich unterschieden von den
Gewölbmalereien, die in ihrer architektonisch gebundenen Composition,
in der Auffassung der menschlichen Gestalt, in Behandlung der Ge-
wänder, selbst im Kolorit mit den hellen rosigen Tönen auf grünlich-
blauem Grunde von einem Meister zeugen, der den herkömmlichen
giottesken Stil noch nicht überwunden hat, aber in den schon merklich
freier durchgebildeten Köpfen und deren kräftiger, wenngleich etwas
schematischer Modellirung die Einflüsse einer neuen Zeit mit ihrem
Streben nach tieferem Eingehen auf die Natur erkennen lässt. Auch
der Faltenwurf der Gewänder, obwohl er in seinen Grundlinien Elemente
der conventionellen giottesken Behandlung verräth, entspricht deutlicher
den Motiven der Bewegung, markirt lebendiger die Körperform. Ver-
kündigung, Vermählung und Krönung Maria haben in Composition
und Auffassung der Gestalten, sowie in dem lichten flüssigen Farben-
auftrag entschiedene Verwandtschaft mit Don Lorenzo und Fiesole, und
erinnern an die Fresken von S. Clemente. Masolino zeigt sich also in
diesen Bildern als ein Künstler, der ungefähr auf der Stufe des Beato
Angelico steht und wenn auch nicht dessen tiefe religiöse Inbrunst, so
doch ein ihm verwandtes Schönheitsgefühl in mehr weltlich freier
Sinnesweise verräth.
Weit entwickelter ist dagegen der Stil der Wandbilder, die einen
bedeutsamen Fortschritt aus dem alterthümlich Gebundenen zur Freiheit
eines energischen Naturalismus zeigen. Durchweg herrscht hier ein
kräftigerer Ton der Farbe, eine vollere plastische Modellirung der Form,
eine schärfere und mächtigere Auffassung des Individuellen. Zwar
zeigen die Figuren der Heiligen immer noch Anklänge an den älteren
Stil, z. B. links der h. Laurentius beim Austheilen von Almosen; aber
im Ganzen tritt das Conventionelle völlig zurück, und eine machtvolle
einfache Naturauffassung drängt sich hervor. Das feierlich Würdevolle
der beiden thronenden Richter links, die beiden lebensvollen Porträt-