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Buch,
Die Frührenaissance.
Während aber in Italien Architektur, Plastik und Malerei an dieser
Neugestaltung theilnahmen, blieb im Norden die Baukunst, und eine
Zeitlang selbst die Bildnerei in den alten ausgetretenen Geleisen der
absterbenden mittelalterlichen Kunst zurück, und die Malerei allein
beschritt kühn die neue Bahn. Da nun obendrein die Wandmalerei
schon während der gothischen Epoche zu Gunsten der glänzenderen
Glasmalerei verkümmert worden war, so concentrirte sich die ganze
Thätigkeit auf die Tafelmalerei, die nun ihrerseits wieder den Wett-
kampf mit der Farbenpracht der Glasgemälde aufnahm. So wendete
sich der ganze Scharfsinn jener grossen Meister darauf, ein neues
Bindemittel zu entdecken, oder vielmehr" das bereits bekannte Binde-
mittel des Oeles so zu vervollkommnen, dass fortan die Bilder durch
eine früher nie erhörte Leuchtkraft, Glut und Tiefe des Kolorits den
Beschauer entzückten und ihn mit der Täuschung der Wirklichkeit
fesselten. Früher als selbst in Italien wurde kraft dieser neuen tech-
mischen Processe der Malerei die Möglichkeit verschafft, die ganze
Fülle und Tiefe des Lebens mit unvergleichlicher Wahrheit zu schil-
dern. Die Gestalten treten vor uns hin, in dem reichen Kostüm der
Zeit, mit der vollen Pracht der Sammt- und Seidenstoffe, der Damast-
brokate und der Pelzverbrämung, geschmückt mit Allem, was die
Kunst der Goldschmiede an edlen Metallen, Perlen und Steinen aufzu-
wenden vermochte, und diese funkelnde, strahlende Stoffwelt wird mit
einer staunenswerthen täluschenden Wahrheit dargestellt. Ebenso wird
in der Erscheinung der Menschengestalt alles Individuelle bis in die
kleinsten Falten und Runzeln der Haut mit einer Treue wiedergegeben,
die fast mit der photographischen Genauigkeit wetteifert. Endlich ist
die Umgebung, seien es die Hallen einer Kirche, die trauliche Be-
schränkung des Wohnzimmers oder der weite Prospekt städtischer
Platze und Strassen, mit einer Schärfe zur Anschauung gebracht, dass
man nicht selten jetzt noch die geschilderten Monumente in der Wirk-
lichkeit nachzuweisen vermag. Üeber alles Das aber breitet sich der
blaue Frühlingshimmel und wirft sein Licht über Landschaften, welche
den Glanz des Lenzes in den frisch grünenden Gebüschen, den Wiesen-
gründen mit ihren tausend Blumen, den üppigen Massen von Wald-
und Fruchtbäumen empfinden lässt.
Während so die niederländische Malerei in ihren Meisterwerken
die Einzelexistenz des Individuums und die Fülle des Naturlebens mit
bewundernswürdiger Kraft schildert, aber bei ihrem der nordischen
Sinnesrichtung eigenen liebevollen Versenken in's Detail sich nicht