Kapitel.
Die
Frührenaissance.
der italienischen
Kultur
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Werk als solchem ihr Interesse zuzuwenden. Auch darin war sie in
Folge des durchgebildeten Individualsinns den nordischen Nationen weit
überlegen. Wenn wir die Masse roher Arbeiten der deutschen Kunst
aus der gleichen Epoche erwägen, so erkennen wir, dass bei uns nieht
bloss die Künstler, sondern auch die Besteller mit der handwerklichen
Mittelmässigkeit sich gar" zu oft genügen liessen. Dort war man zu-
frieden, wenn dem religiösen Bedürfniss entsprochen ward; hier stand
hinter der kirchlichen Aufgabe als ungleich höhere Forderung die
künstlerische Lösung. Es nahte die Zeit, wo das Religiöse sich in das
menschlich Wahre und Schöne umsetzen sollte.
Mit der Darstellung des Menschen halt die seiner Umgebung
gleichen Schritt. Vor allem regt sich mächtig das Gefühl für die laud-
schaftliche Stimmung, wie wir es in den literarischen Schöpfungen
schon seit Dante, ausgeprägter noch bei Petrarca finden. Was Giotto
auf diesem Gebiete begonnen hatte, entfaltete sich jetzt aus zartem
Keim zu lebensvoller Blüthe. Reiche Mittelgründe mit Bäumen und
Sträuchern, mannichfach abgestuftes Hügelterrain bis zu den fernen
Gebirgszügen gemahnt an die lieblichen Landschaften Toscana's und
bezeugt die poetisch gehobene Stimmung, mit welcher auch diese Spiegel-
bilder der Wirklichkeit entworfen wurden. Dazu gesellt sich dann
eine Vorliebe für architektonische Gründe, für luftige Säulenhallen,
stattliche Kuppelbauten, Triumphbogen und was sonst die Begeisterung
für das klassische Alterthum verlangte. Ueberall suchen die Maler
Zeugniss davon abzulegen, wie lebhaft sie an dem neuen architektonischen
Ideal Theil nehmen, zuerst noch in einer Vermischung mit den gothi-
sehen Formen, bald aber mit völliger Ausstossung der letzten Reste
mittelalterlicher Anschauung. Man schwelgt förmlich in dem Glücke,
die Säulenordnungen der Alten, den reichen plastischen Schmuck,
Ueberreste antiker Reliefs an Wänden, Altaren oder wo sonst irgend
sich eine Gelegenheit bietet, anzuwenden. Als Hintergrund vollends
einen schönen Kuppelbau oder auch ein paar römische Triumphbögen
anzuordnen, ist ein Lieblingsgedanke der damaligen Kunst. Selbst
Rafael hat in dem Kuppelbau seines Sposalizio noch dieser Sitte ge-
huldigt. Keine Frage, dass diese Begeisterung für die Wirklichkeit
und für das klassische Alterthum in den Schöpfungen dieser Epoche
mit einer Ueberschwanglichkeit sich aussert, welche nicht selten eine
Üeberfüllung herbeifuhrt, so dass Leo Battista Alberti, wahrscheinlich
durch solche Wahrnehmungen veranlasst, ganz besonders das Maass-
halten einschärft und in der lateinischen Redaction seines Traktats