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Buch.
Frührenaissance.
liehen Bestrebungen, welche auf Ergründung der Linear- und der
Luftperspective, der Optik überhaupt, des Gesetzes der Verkürzungen
gerichtet sind. Bei manchen Künstlern erkennt man deutlich, dass
sie geflissentlich Themata aufsuchen, welche ihnen die Darlegung ihrer
Kenntnisse der Verkürzung, der Perspective gestatten; so vor Allem
Paolo Uccello, Melozzo da Forli, Mantegna. Auch das Studium des
Nackten wird zum besonderen Gegenstand des Wetteifers; welche ganz
neue Physiognomie erlangt die Darstellung der letzten Dinge, der
Auferstehung und des jüngsten Gerichts unter den Händen eines Signe-
relli, der seiner unerschöpflichen Lust an Schilderung der menschlichen
Gestalt in solchen Werken mit Wonne den Zügel schiessen lasst.
Bringt doch selbst Michelangelo noch auf seinem Madonnenbilde in
den Üflizien eine Anzahl nackter Figuren im Hintergründe an, bloss
um seine Kenntniss des menschlichen Körpers zu beweisen und seiner
Freude an solchen Darstellungen zu genügen. Bei Scenen aus dem
Jugendleben Christi oder der Madonna, oder auch bei legendarischen
Stoffen überlässt man sich mit besonderer Lust dem Hange nach
Schilderung der Wirklichkeit, und so werden denn die Vorgänge der
heiligen Geschichte in die unmittelbare Gegenwart gerückt, indem die
würdigen Männer und die anmuthigen Frauen und Jungfrauen des
damaligen Italien wie ein theilnehmender Chor von Zuschauern der
Handlung beiwohnen. Bei Domenico Ghirlandajo namentlich weiss diese
Lust an der bunten llliannigfaltigkeit der Welt sich kaum zu erschöpfen.
Benozzo Gozzoli führt selbst bei seinen Geschichten des alten Testa-
ments die Florentiner seiner Zeit als Zuschauer ein. Auch dafür frei-
lich hatte Giotto den ersten Anstoss gegeben.
Wenn diese Richtung, welche ideale Gestalten mit denen der
umgebenden Wirklichkeit in unmittelbare Verbindung setzte, sich
meistens auf einer Höhe hielt, wo der Realismus eine Läuterung zu
edler Formvollendung gewinnt, so verdankte sie dies einerseits dem
hohen Sinn der Künstler, sodann aber auch der feinen Bildung, die
über das damalige Italien, namentlich über Florenz ausgegossen war
und den Zeitformen den Charakter künstlerischer Anmuth aufprägte.
Das hoch entwickelte, in der Kultur der aufblühenden Renaissance
herangewachsene Geschlecht der damaligen Italiener ist durch edle
Naturanlage und humane Bildung Weit überlegen den derben, unschönen
Gestalten des nordischen Spiessbürgerthums, welche wir auf den Werken
der deutschen Künstler jener Zeit linden. Vor Allem aber hatte die
Nation schon seit Cimabue sich daran gewöhnt, dem künstlerischen