Kapitel.
Die
Frührenaissance.
Kultur der italienischen
247
Stellung ein. Michelangelo hat viele Jahre seines Lebens ausschliesslich
anatomischen Studien gewidmet.
Wenn so der einmal erregte Geist wissenschaftlicher Forschung
das Einzelne des Naturlebens und die Gesammtheit der Erscheinungen
zu ergründen suchte, so sollte dann auch von Italien der Anstoss zu
jenen grossen Entdeckungen ausgehen, durch welche die unklaren
Vorstellungen der früheren Zeiten von der Gestalt der Erde einer
richtigeren Erkenntniss Platz machten. Italien gehören alle jene kühnen
Seefahrer an, die vom grossen Columbus bis zu Amerigo Vespucci
und Giovanni Caboto in das unbekannte Weltmeer vordrangen, um
dort die vorausgesetzte und geahnte neue Welt zu entdecken. Wie
durch diese Erweiterung des Schauplatzes der Erde alle Anschauungen
einen durchgreifenden Umschwung erfuhren, bedarf nur kurzer An-
deutung.
Für die italienische Kunst wurden alle diese Forschungen_und
Entdeckungen die Quelle eines neuen Lebens. Was ihr von vorn
herein die hohe Ueberlegenheit über die gleichzeitigen Schöpfungen
der Literatur verschafft, ist der Umstand, dass sie nicht so ausschliess-
lich von dem Enthusiasmus für das klassische Alterthum hingerissen
wurde wie die Kreise der Gelehrten und Gebildeten. Der Künstler
blieb noch lange durch den Zunftverband und die traditionelle Art der
Kunstübung einer mehr handwerklichen Lebensstellung unterworfen.
Für ihn existirten meistens die hochgelehrten lateinischen Werke der
Literatoren nicht, und so wurde er nur ausnahmsweise in den antiken
Rausch der höheren Lebenssphären hineingerissen. Daher kommt es,
dass wir bis in den Ausgang des 14. Jahrhunderts bei den Malern die
mittelalterlichen Anschauungen Dante's herrschend finden, die schon
durch die Vulgärsprache und den Zusammenhang mit der kirchlichen
Tradition volksthümlicher waren {als die gelehrten Bestrebungen eines
Petrarca und seiner Nachfolger. Bis gegen 1420 lässt sich keine Spur
von Einfluss der humanistischen Ideenkreise in den Kunstwerken ent-
decken. Als dann die klassischen Studien sich in einem weiteren
Umfang ausbreiteten, wurden auch die Künstler von dem geistigen
F luidum, welches die Zeit ganz erfüllte, mächtig ergriffen. Ünd dies
um so mehr, als jene Richtung auf die Natur, welche schon seit Giotto
sich Bahn gebrochen hatte, durch die Wiederbelebung des Alterthums
mächtige Förderung erfuhr. Der Drang nach Befreiung des Indivi-
duums führte nothwendig zum Triebe, die ganze Aussenwelt wissen-
schaftlich zu erkennen und zu durchdringen; eine objektive Betrachtung