Kapitel.
Die Kultur der italienischen Frührenaissance.
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Alpen alle Gebildeten durchdrang und von da aus allmählich auch die
unteren Schichten der Bevölkerung erfasste. So Ward das National-
gefühl von Anbeginn auf ein rein geistiges, hochideales Gebiet hin-
gewiesen. J e weniger daneben die Zerklüftung des staatlichen Lebens
den patriotischen Sinn befriedigte, desto tiefer grub sich die Sehnsucht
nach jener klassischen Vorzeit, welche die lebhafte Phantasie in unver-
gleichlichem Glanze durch das Dunkel der mittleren Zeiten herüber-
leuchten sah, in die Gemüther ein. So musste denn der Drang nach
Wiederbelebung des Alterthums zu einem überall unter der Asche
glimmenden Feuer werden, das sich selbst in Rienzfs phantastischen
Träumen zu erkennen giebt, und welchem endlich Petrarca zum Siege
verhalf. Was in der rauhen Wirklichkeit des Lebens scheitern musste,
erlebte seine Auferstehung im Reiche des Geistes.
Kein Wunder daher, dass man sich den antiken Vorbildern so
treu wie möglich anzuschliessen suchte, und dass man eine Literatur
hervorrief, die freilich sich dem Verständniss des Volkes entzog und
von Hause aus dem Grrundübel erlag, nur für einen kleinen Kreis der
Gelehrten und Hochgebildeten bestimmt zu sein, Am üppigsten ge-
deiht die Epistolographie, die nicht sowohl den eigentlichen Brief-
eharakter vertraulicher Privatmittheilung tragt, als vielmehr nach dem
Vorbilde Cicerds sententiös und reflektirend im Sinne jener etwas
seichten römischen Moralphilosophie sich über allerlei rein akademische
Themata, über Freundschaft, Liebe, Ruhm, über Standhaftigkeit im
Unglück, über die Einsamkeit u. dgl. verbreitet. Der Reiz klassischer
Einfachheit und Formvollendung wirkte als etwas völlig Neues so
mächtig auf die Zeitgenossen, dass noch zu Petrarca's Lebzeiten man
begierig nach diesen Lebensäusserungen des erlauchten Dichters und
Weltweisen verlangte und sie durch Abschriften vervielfältigte. Das
Streben, in ähnlicher Eleganz mit philosophischen Wendungen, mit
Citaten klassischer Autoren, mit historischen und mythologischen An-
spielungen zu schreiben, ergriff bald die gebildete Welt, die durch
solche Briefwechsel sich wie zu einer Gelehrtenrepublik verbunden
fühlte. Wieder nach dem Vorgangs Cicero's und Seneca's schrieb er
sodann moralphilosophische Tractate, und auch die Geschichtschreibung
suchte er im antiken Sinne neu zu beleben. Nach VirgiPs und Horaz'
Vorbilde dichtete er Eklogen und poetische Episteln, selbst zu einem
Heldengedichte schwang er sich in der Africa auf, die immerhin das
erste Kunstepos der neuen Zeit und die Vorläuferin des rasenden
Roland und des befreiten Jerusalem ist.