I. Buch.
Mittelalter.
Das
Gebilde in voller Körperlichkeit bestimmt und klar vor Augen stellt.
In diesen Werken hat der menschliche Geist seinen Einklang mit der
Natur zur schönen Erscheinung gebracht; desshalb weht uns aus ihnen
wie aus einem verlernen Paradiese der Hauch ungetrübter Harmonie
entgegen, beruhigend, versöhnend, befreiend.
Aber jener Einklang von Natur und Geist war eine glückliche
Jugendtäusehung der Menschheit: schön und bezaubernd, auf die Lange
jedoch vor dem schärfer in die Tiefe dringenden Bewusstsein nicht zu
behaupten. Die griechische Philosophie selbst hatte skeptisch die Sonde
angelegt und den Gegensatz deutlich erkannt; da trat das Christen-
thum auf und brachte die alten dualistischen Lehren des Orients zur
Geltung. Der christliche Gott als höchstes geistiges Prinzip hatte
zwar die Welt erschaffen, aber in ihr zugleich das Böse, seinen Gegen-
satz hervorgebracht; fortan Ward das Sinnliche als Feind des Sitt-
lichen, die Natur als Gegensatz des Geistes erfasst.
Das höchste geistige Prinzip in der Gottheit zur künstlerischen
Darstellung zu bringen, war die Plastik nicht geeignet. Die Malerei
trat an ihre Stelle. Sie verzichtet auf die Totalität der körperlichen
Form und mit ihr auf den Versuch, dieselbe in absoluter Vollendung
und Schönheit darzustellen. Aber Während sie Vieles aufgiebt, tauscht
sie dafür Andres, nicht minder Wichtiges ein. Indem sie kraft der
Mittel, welche Zeichnung, Farbe, Licht und Schatten ihr gewähren,
nur den Schein der Gestalt auf die Fläche wirft, löst sie das Einzel-
Wesen von seiner Isolirung, stellt dasselbe im Zusammenhang mit
Andern und mit der umgebenden Natur hin und vermag die ganze
Fülle geistiger Beziehungen des Menschenrlaseins, den ganzen Reich-
thum des Naturlebens in allen seinen Erscheinungsformen zur Dar-
stellung zu bringen.
Strebt die Plastik nach der vollen Schönheit der naturgemäss
durchgebildeten Form, sucht sie darin das Normale, Gesetzmässige,
Allgemeingültige, das Typische, so giebt sie den Ausdruck, die Em-
pfindung, das Besondere nur soweit dies mit jenem vertraglich ist. Die
Reihe griechischer Göttergestalten zeigt uns Idealbildungen allgemeiner
Gattungswesen. Selbst das Portrait in seiner schärferen individuellen
Form kommt daneben nur in bedingter Weise zur Geltung, nirgends
zu seinem vollen Recht. Musste doch überhaupt in der griechischen
Plastik der- Ausdruck des Kopfes gedämpft und zurückgestimmt werden,
um nicht mit seinem individuell geistigen Leben die Harmonie des
Ganzen zu übertönen und aufzuheben.