Erstes
Kapitel.
Altchristliche
Epocha
(Bis
des
Ende
Jahrhunderts.)
Zwei höchste Erscheinungsformen des Schönen hat die Welt
gesehen: die griechische Plastik zur Zeit des Phidias und die italie-
nische Malerei zur Zeit RafaePs. Fast zwei Jahrtausende liegen da-
zwischen mit dem Untergang der antiken Welt und demlEntstehcn,
Wachsen, Mächtigwerden des Christenthunis. S0 lange bedurfte der
Genius der Menschheit, um sich abermals zur Offenbarung vollkom-
mener Schönheit aufzuschwingen.
In der That, nur mit den edelsten Schöpfungen des hellenischen
Meissels lassen sich die Meisterwerke des italienischen Pinsels ver-
gleichen, Wie jene dem klassischen Alterthum den vollendeten Ausdruck
Sßillßr lIÖChStGH Gedanken, so schufen diese der christlich-mittelalter-
liehen Epoche eine nicht minder vollendete Sprache für ihre erhahensten
Ideen.
Es war nicht von ungefähr, dass die Aufgabe, Welche im Alter-
thum der Plastik gestellt ward, in der christlichen Epoche der Malerei
anheim fiel, dass jene bei den Griechen, diese in der christlichen Zeit
die götterbildende Kunst wer. Die Plastik hat es mit der vollendeten
Darstellung der menschlichen Gestalt in ihrer naturgemässen Schönheit,
ihrer vollen normal durchgebildeten Form zu thun. Wo die Vorstel-
lungen des Göttlichen wie bei den Griechen auf der Personificatiou
von Naturkräften beruhen, da, vollzieht sich die künstlerische Aus-
prägung dieser Gestalten nothwendig in derjenigen Kunst, welche ihre