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Buch.
Das
Mittelalter.
die vier Evangelisten Strahlen göttlicher Weisheit empfängt, die er
seinerseits dann auf seine verehrungsvoll harrenden Ordensbrüder herab-
sendet. Die Ketzerei in der Gestalt des Averroes liegt niedergeschmet-
tert am Boden, von einem Strahl des Heiligen getroffen. Inmitten
dieser scholastischen Dogmatik erscheinen nun aber auch Plato und
Aristoteles, von deren Büchern ebenfalls erleuchtende Strahlen auf den
bevorzugten Heiligen sich ergiessen. Bei feierlich rhythmischer An-
ordnung herrscht ein edler milder Sinn in dem Bilde, welcher der
trocknen Schärfe des Dogmas die Spitze abbricht. Die feinen Formen
und die zarte fast miniaturhafte Durchführung in lichten F arbentönen
beweisen, dass der Meister mehr von der sienesischen als von der
florentinisehen Kunst empfangen hat. Ein anderes 1345 für dieselbe
Kirche gemaltes Bild, jetzt zum Theil in der Akademie, zum Theil
im Erzbischöflichen Seminar beündlich, enthält die lebensgrosse
Gestalt des h. Dominikus und acht kleine Bilder aus seinem Leben;
in den Giebelkrönungen die Gestalt des segnenden Christus und die
Halbfiguren von vier Propheten. Auch hier ist ein milder, weicher
Charakter, eine sanfte Grundstimmung ausgeprägt.
Waren die einheimischen Künstler durch ihren Anschluss an die
Sienesen mehr für die idyllische Poesie solcher Andachtsbilder geeignet,
so sah man sich in Pisa bei den grossräumigen monumentalen Unter-
nehmungen, durch welche die damals noch mächtige Stadt selbst mit
Florenz wetteiferte, auf auswärtige Hülfe angewiesen. So entstand
denn in den Wandgemalden des Camposanto eine der gevvaltigsten
monumentalen Bilderreihen der mittelalterlichen Kunst. Zum Abschluss
des unvergleichlichen Platzes, auf welchem die Marmorbauten des Doms,
des Baptisteriums und des Glockenthurmes anfragen, liess die Stadt
seit 1278 bis 1283 durch den grossen Giovanni Pisano das weltbe-
rühmte Camposanto errichten, und die Erde für diesen grossartigen
Friedhof der Sage nach aus dem gelobten Lande herbeiführen, um
die Kinder der Stadt in geweihtem Boden bestatten zu lassen. Es ist
eine gewaltige Halle von etwa 25 Fuss Tiefe, welche die vier Seiten
eines Hofes von 354 Fuss Länge und 114 Fuss Breite umgiebt. Nach
innen durch grosse gothische Maaswerkbögen sich öffnend, sind diese
Hallen nach der Aussenseite durch Mauern geschlossen, deren unge-
gliederte Flachen einen unvergleichlichen Raum für die Malerei ge-
währten. Schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts begann man in
Folge wetteifernder Privatstiftungen mit der Ausführung einzelner
Bilder, aber erst um 1370 wurde die Sache von Seiten der Stadt