Kapitel.
Gothische
Epoche.
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die über ihr schwebende „Weisheit" in der Hand hält Aug jeder
Waagsehaale neigt sich ein Engel heraus, der eine einen Verbrecher
cnthauptend und einen knieenden Tugendhaften krönend, der andre
zwei ebenfalls kniecnden Figuren Lanzen überreichend und Geld in ein
rundes Gefäss legend.' Man kann nichts Steiferes und Unerfreulicheres
sehen als diese Gruppe, so ausdrucksvoll auch die einzelnen Köpfe sind.
Aber die Allegorie ist damit noch nicht erschöpft. Jene beiden Engel
in den Waagschaalen sind, der eine mit einem rothen, der andre mit
einem weissen Seile gegürtet, deren Enden herabhangen und von der
linken Hand der auf einem tieferen Throne unter der Gerechtigkeit
sitzenden Eintracht zusammen gefasst werden. Auf dem Schoosse hält
sie einen grossen Hobel, mit welchem sie wahrscheinlich Alles in's
Gleiche bringen soll. Nun geht der besagte Doppelstrick in die Hände
der vierundzwanzig Regierungslnänner über, Welche prozessionsmässig
paarweise von hier aus gegen den Thron der gewaltigen Herrscheriigur
sich bewegen, in deren Rechten der Strick sein Ende findet. Man muss
gestehen, dass selbst in jener Zeit, wo die Allegorie so hochgehalten
wurde, diese Art von Symbolik etwas ausgesucht Abgeschmacktes hat.
Jedenfalls hätte Giotto dergleichen in geistvollerer Weise gegeben.
Schadlos halt sich indess der Künstler in den ungemein lebensvollen
und individuell gehaltenen vierundzwanzig Rathsherren, die in Köpfen,
Gebärden, Haltung und Tracht die grösste Mannigfaltigkeit zeigen.
Noch mehr aber in der herrlichen Gestalt der Concordia, deren Kopf
vornehme Majestät mit seelenvoller Anmuth in einer Weise verbindet,
die im ganzen Mittelalter schwerlich ihres Gleichen hat. (Fig. 65.) Als
habe der Künstler das Unzureichende seiner Symbolik gefühlt, fügte
er überall den Figuren Verse bei, die in naiver Weise den Sinn der
Darstellung erläutern.
Auf der zweiten Wand sieht man die Folgen des guten Regiments.
Der Blick fällt in das Innere einer Stadt, bei Welcher offenbar dem
Künstler Siena vorschwebte. Wir sehen überall Frieden, Freude und
Thältigkcit herrschen; überall schaffen fleissige Handwerker in ihren
Werkstätten, und es fehlt nicht an dem fröhlichen Getümmel eines
Hochzeitszuges, der zu Pferd und zu Fuss mit Rittern und Edelknaben,
mit Possenreissern und einem Chor tanzender Jungfrauen sich durch
die Strassen bewegt. Durch das offne Stadtthor fällt der Blick in
eine hügelige Landschaft, in welche Jäger hinaus ziehen, wo man
die Landleute und die Fischer bei ihrer Thätigkeit sieht, Lastwagen
die Landstrassen beleben, Jünglinge sich im Armbrustschiessen üben