Kapitel.
Gothische
Epoche.
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Tugenden. In einer zweiten Reihe unterhalb der ersten sieht man nun
auf prächtigen gothischen Chorstühlen vierzehn weibliche Figuren sitzen,
in welchen Wissenschaften, Künste und Tugenden personificirt sind.
(Fig. 55.) Sie beginnen mit den sogenannten sieben freien Künsten
des Mittelalters, an welche sich die drei Kardinaltugenden und die
Disciplinen der Theologie und des Rechts schliessen. Diese Gestalten
sind höchst lebendig und poetisch, von mannigfachem Ausdruck und
einer in jener Zeit seltenen Holdseligkeit. Zu ihren Füssen wieder
sitzt eine dritte Reihe von Männern, welche durch hervorragende Be-
deutung in den einzelnen Gebieten jener Künste und Wissenschaften
sich ausgezeichnet haben. Man kann sich nicht leicht etwas Trockneres
denken, als das mönchisch scholastische Programm, welches hier vorlag.
Um so grösser ist die Bedeutung des Künstlers, der diese Gestalten
mit solcher Lebensfülle auszustatten wusste. Die machtvolle Tiefe
der Charakteristik wird durch manche der Wirklichkeit abgelauschte
Züge unterstützt, die gleichwohl nirgends in's Kleinliche fallen. Ange-
sichts dieser Gestaltenreihen sieht man, auf welchem Wege der Stil
dieser Schule zu einer höheren Belebung, zu freierem Naturgefühl sich
erheben sollte. Das tiefe grübelnde Versunkensein, die scharf ge-
spannte Aufmerksamkeit, die stille Sammlung des Mannes wissenschaft-
licher Arbeit, die feierliche Haltung des Lehrenden wechseln mit
einzelnen mehr genrehaften Motiven, wie Tubalcain, der auf dem
Ambos schmiedet, oder wie jener die Feder Spitzende, oder der daneben
die seinige aufmerksam Prüfende.
Der Tiefsinn in der Composition des ganzen grossen Cyclus ver-
langte in dem Gewölbefeld über dieser Seite die Darstellung der Aus-
giessung des h. Geistes, so dass der h. Thomas und mit ihm der ganze
Dominikanerorden als die eigentlichen Erben der göttlichen Weisheit
bezeichnet werden. Ebenso sinnreich war, wie wir sahen, auf der
entgegengesetzten Seite die Darstellung des Schiffes Petri ein Symbol
für den mächtigen Schutz und Beistand, den die Kirche vom Domini-
kanerorden empfängt. Mit derselben Consequenz zeigt das Gewölbe
über den Darstellungen aus dem Leben des h. Dominikus die Himmel-
fahrt Christi wiederum als ein Vorbild des unter die Heiligen des
Himmels versetzten Ordensstifters, lund endlich gehörte der vierten
Gewölbkappe die Auferstehung Christi als nothwendiger Abschluss zu
den an der betreffenden Wand geschilderten Scenen der Passion. Dieser
grossartige Gedankengang, die mächtige Consequenz des Ganzen trägt
wesentlich bei zu dem feierlichen Eindruck, den dieser edle Raum wie