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Buch.
Mittelalter.
Das
Nach Dante's schöner Schilderung war dies verachtete Weib einst mit
Christus vermählt, blieb dann aber über 1100 Jahre ohne Freier, bis
der h. Franziskus kam und sie erwählte. S0 sehen wir denn auf dem
Bilde Christus selbst den Heiligen mit seiner Verlobten zusammen-
geben. Sie steht als ein zerlumptes hageres Weib mit allen Zeichen
der Dürftigkeit und des Elends da und scheint fast erschrocken, wie
Christus ihre Rechte nimmt, um sie mit dem h. Franz zusammen zu
geben. Dornen umwuchern ihre nackten Füsse, lassen aber über ihrem
Haupte einen herrlichen Rosenbusch sich blühend entfalten. Der sechs-
eckige Nimbus, der ihren Kopf umgiebt, verleiht der Gestalt ein noch
seltsameres Gepräge. Zwei Kinder werfen mit Steinen und schlagen
mit Stecken nach ihr, ein Hund bellt sie an: dasselbe Motiv, welches
Giotto schon in der Cberkirche bei der F ranziskuslegende verbrachte.
Um den Nachdruck noch mehr auf diese Hauptfigur zu legen, ist der
Künstler von dem Gesetz symmetrischen Aufbaues abgewichen und
hat sie, anstatt Christus, in die Mitte der Composition gestellt. Herrliche
Engelschaaren nahen von beiden Seiten und heben mit ihrer Schönheit
die verkümmerte Gestalt noch mehr heraus. Der Glaube reicht ihr
den Ring, die Liebe zeigt ihr das Herz. Üeber ihr schweben Engel,
der eine mit einem Mantel, der andre mit einem Klostermodell. Noch
deutlicher bezeichnet der Künstler den Gedanken des Bildes durch
die beiden Gruppen rechts und links im Vordergrunde des Bildes:
links gibt ein mitleidiger Jüngling, durch einen schönen Engel ge-
leitet, einem armen Alten seinen Mantel; rechts sucht ein Engel einen
vornehmen Jüngling auf das Vorbild des Franziskus hinzuweisen, während
neben ihm ein Kleriker krampfhaft seinen Geldbeutel an sich drückt,
vergebens durch einen hinter ihm stehenden Mönch zur Milde ermahnt.
S0 geht ein einziger Grundgedanke durch das ganze Bild, alle Einzel-
heiten verknüpfend, das Ganze zu eigenthümlich poetischer Wirkung
steigernd.
Nicht von gleicher Poesie des Inhalts ist der Gehorsam, weil
hier nicht mit ähnlich zwingender Kraft der Grundgedanke künstlerisch
zu versinnlichen war. (Fig. 51.) Man sieht eine oifne Halle, in welcher
drei Figuren thronen, in der Mitte der Gehorsam, der gegen einen
knieenden Ordensbruder zum Zeichen des Schweigens den Finger an
die Lippe legt, während er mit der andern Hand ihm ein Joch über
den Kopf wirft. Zur Linken kniet die Humilitas, in der Rechten eine
brennende Fackel haltend, mit einem schönen Ausdruck der Demuth;
auf der andern Seite die Prudentia (Klugheit oder Vorsicht), mit dop-