120
Buch.
Das Mittelalter.
die Bewegungen der ganzen Gestalt, besonders die Hände von einer
solchen sprechenden Lebendigkeit und Wahrheit, dass sie den Üompo-
sitionen meistens das Gepräge dramatischen Lebens verleihen. Dabei
ist Alles in Zeichnung und Modellirung nur in grossen Zügen an-
gedeutet, mehr i-m Allgemeinen mit wunderbarem Instinkt dem Leben
abgelauscht als durch strenges tief eindringendes Naturstudium durch-
gebildet. Es ist eine Kunst, die nirgends auf sinnlichen Reiz ausgeht,
dafür aber in der mächtigen Betonung des Wesentlichen stets den
Gegenstand direkt in's Herz trifft und für Schilderung dramatischer
Handlung wie für Entwicklung tiefer Gedankeukreise im höchsten
Grade sich eignet. Im Zusammenhange damit steht die noch sehr
mangelhafte Linearperspektive; denn von Luftperspektive ist überhaupt
noch gar nicht zu reden. Noch fehlt es an der Erkenntniss von der
Nothwendigkeit eines bestimmten Abstands- und Augenpunktes, und
die viel zu kleinen Gebäude, welche oft den Hintergrund bilden, sind
weder perspektivisch richtig gezeichnet, noch im entsprechenden Ver-
hältniss zu den menschlichen Figuren. Sie sind mehr symbolisch an-
deutend als real gemeint. Ebenso verhält es sich mit der Landschaft;
doch bietet sie in ihrem Zusammenhange mit den Figuren einen grossen
Fortschritt gegen den starren Goldgrund der Byzantiner. Was endlich
die Malweise Giotto's betrifft, so hat er nach dem Vorgange Cimabue's
an Stelle der dunklen byzantinischen Töne, welche schon Jener in's
Lichtere umzuwandeln suchte, ein klares helles Kolorit gewählt, das
ebenfalls nicht den Anspruch macht auf naturalistische Durchführung,
sondern nur andeutend wirken will. Das eigentliche Fresko hat Giotto
noch nicht gekannt, vielmehr die auf dem nassen Grund ausgeführten
Gemälde durch Üebermalung al secco erst vollendet. Statt des dunklen
grünlich-grauen Tones der Untermalung, welchen die Byzantiner liebten,
hat Giotto ein helleres grünliches Grau gewählt. Die Fleischpartieen
sind durch warme Lasuren in rosigen transparenten Tinten übergangen,
die grünlichgrauen Schatten gehen durch warmröthliche Halbtöne in
die Lichter über, die mit breitem Pinsel aufgesetzt sind, so dass die
Gestalten plastische Fülle und Rundung erhalten. Der Gesammt-
charakter seiner Gemälde ist klar, warm und licht, auch hierin mehr
eine ideale Andeutung als naturalistische Ausführung erstrebend.
Gehen wir näher auf die Betrachtung des Einzelnen ein , so ist
mit dem frühesten Cyclus, der Franziskus-Legende in der Oberkirche
zu Assisi zu beginnen. Hier tritt uns Giotto als ein noch jugendlich
Unfertiger, Suchender entgegen, der sich erst allmählich aus dem