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Buch.
Das
Mittelalter.
leibt, greift er tief hinein in Natur und Menschenleben, um dieselben
neu zu beseelen. So sehr ist ihm Ausdruck, Empfindung, Leidenschaft
um jeden Preis einziges Ziel seiner Kunst, dass er sich um Schönheit
wenig kümmert, im Affekt nicht selten bis an die Grenze des
Hasslichen, bis zur Grimasse sich verirrt. Dies sind Schwächen
seiner Kunst, die so tief mit ihren Vorzügen verschwistert sind, dass
man bei genauerem Eindringen sie kaum noch bemerkt. Denn so
erfüllt ist seine Darstellung von Leben, Wahrheit und Charakter, dass
sie Wie im Üeberschuss von Kraft überströmt und trotz der herben
Form hinreissend wirkt. In seinen Compositionen geschieht Alles so
zwanglos und natürlich, als ob greifbare Wirklichkeit uns vor Augen
Stände. Er hat daher keine müssigen Fiillfiguren, denn selbst die
unscheinbarste Nebengestalt steht unter dem zwingenden Banne des
Geschehens und spiegelt, selbst nur zuschauend, die "Handlung. Für
solche Figuren meist volksthümlicher Art wendet er gern die Tracht
der Zeit an, und er ist der erste, der dies neue Element in die Dar-
stellung eingeführt hat. Im Üebrigcn erscheinen seine heiligen Ge-
stalten in den feierlichen Idealgewändern, welche seit der Antike als
unverausserliches Erbtheil für den Ausdruck kirchlicher Würde in die
christliche Kunst eingedrungen waren. Aber er läutert die Gewandung
von der Unzahl kleinlicher Falten, sowie von den prunkenden Orna-
menten, mit welchen byzantinische Zierlust dieselben überladen hatte.
Vor allem erhalten dadurch die Gestalten ein volles plastisches Leben,
worin sich ohne Frage die Einflüsse der Bildnerei jener Zeit, nament-
lich des Giovanni Pisano, zu erkennen geben. Auch darin verräth
sich die Nachwirkung der Plastik, dass bei Giotto die Gewänder nach
unten geradlinig abschliessen, als wäre jede Figur einzeln vom Bild-
hauer hingestellt. Darin ist noch ein Rest von Befangenheit zu er-
kennen, die seltsam contrastirt gegen das freie, selbst dramatische
Leben der Gestalten. S0 gewinnen die Gewänder einen einfachen
grossen Faltenwurf, der mit seinen klar hinfliessenden Motiven zum
ersten Mal wieder den Organismus und die Bewegungen des Körpers
ausklingen lässt. Aber auch hierin beschränkt er sich auf das Wesent-
liche und ist weit entfernt davon, in realistischer Weise die Besonder-
heit verschiedener Stoffe wiedergeben zu wollen. Seine Gewandung
ist daher eine im höchsten Sinne ideale, die nur dem geistigen Aus-
druck dient.
Nicht minder schlicht, nur auf das Wesentliche
Zeichnung seiner Köpfe (Fig. 40). Auch hier geht
gerichtet ist die
er weit weniger