106
Buch.
Das Mittelalter.
Schätzen und AllSehell; 30,000 waffentüchtige Bürger, 70,000 aus der
Landschaft, ganz Toskana theils unterthan, theils verbündet. Um
1338 beliefen sich die Einnahmen von Florenz auf etwa 300,000 Gold-
gulden jährlich, und selbst König Robert von Neapel hatte aus seinem
ganzen Reiche keine grösseren. Die Verzollung der Waaren beim
Ein- und Ausgang trug über 900,000 Goldgulden, der Weinzoll allein
gegen 00,000 Gulden. Alle diese Umstände brachten eine verfeinerte
Kultur in den Städten auf. Sie sahen an den Höfen der kürzlich erstan-
denen Fürsten die Formen einer neuen Gesittung, welche dem ritter-
lichen Wesen der nordischen Nationen nachgebildet war. Auch die
zahlreichen Söldnerschaaren der Condottieri, welche man meist aus dem
Norden kommen liess, um die neu gegründete fürstliche Macht zu
stützen, oder dem schon in Verweichlichung übergehenden Bürgerthum
den lästig gewordenen Waffendienst abzunehmen, brachten fremde
Kriegsführung und Lebensformen nach dem Süden. Noch stärker war
der Einfluss, den die Scholastik allmählich auf Italien gewann, da Tau-
sende von angesehenen Jünglingen und Männern nach Paris strömten,
um dort sich in dieser Wissenschaft unterweisen zu lassen.
Wenn irgendwo die ganze Abstrusität der mittelalterlichen An-
schauung sich geoffenbart hat, so ist es in Dante's divina commedia.
Das erhabene Gedicht ist wie eine jener wunderbaren Kathedralen des
Mittelalters, in deren vielverschlungenen Bau das Sonnenlicht nur durch
die mystische Farbenpracht der Glasgemalde gebrochen einfällt, und
in deren kühn emporsteigenden Wölbungen glaubensvolle Sehnsucht
nach dem Jenseits zum Himmel ringt. Ist diese Seite des grossen
Dichters ein fremdes Element, das vom Norden her in die Klarheit
des italienischen Lebens eingedrungen, so verrath sich dagegen in
seiner Verehrung des klassischen Alterthums, und nicht minder in
einem überraschend das Ganze durchdringenden Naturgefühl die heitere
offene Sinnlichkeit des Südens. Wenn er unzählige Vergleiche und
Bilder dem wirklichen Leben und selbst der anscheinenden Trivialität
des Werktagtreibens entnimmt, so erkennt man darin denselben tiefen
Drang nach der Natur, den schon seit Cimabue und Duccio auch die
iWIalerei nicht verläugnen kann. Endlich aber ist die tief erregte Sub-
jectivität des grossen Dichters, seine leidenschaftliche Empfindung in
Liebe und Hass der stärkste Ausdruck jenes mächtigen Individualis-
mus, den der Norden in dieser Art nicht kannte, der aber von Anbe-
ginn zur eigentlichen Signatur des italienischen Volksgeistes gehört.
Noch entschiedener spricht sich dieser Individualismus in Petrarca aus,