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Kapitel.
hauerei in den Niederlanden, wie in Italien, der Malerei in der
Ausbildung vorangegangen ist, und, wie wir von den italienischen
Malern historisch wissen, dass sie nach den berühmten bronzenen
Thüren des Baptisteriums zu Florenz von Lorenzo Ghiberti studirt
haben, so ist es nicht zu bezweifeln, dass ein Aelmliches auch in
den Niederlanden stattgefunden hat. Den frühsten Beweis hiefür
liefern verschiedene, im Jahr 1371 von einem Johann von Brügge,
Maler des Königs, Karl V. von Frankreich, in einer französischen
Uebersetzung der Vulgata, welche sich in dem Westrenischen Mu-
seum im Haag befindet, ausgeführte Miniaturen. ' An der Spitze
sieht man das ziemlich grosse Bildniss des Königs Karl V. im Profil
und des vor ihm knieenden, ebenfalls im Profil genommenen, Jo-
hann Vaudetar, welcher, zufolge einer in dem Manuscripte befind-
lichen Dedication in französischen Versen, dem Könige mit dieser
Bibel ein Geschenk gemacht hat. Beide Köpfe sind vollständig in-
dividualisirte, in einem zarten Fleischton ausgeführte Bildnisse. Ei-
nige historische Bildchen auf dem Bl. 467, die Geburt, die Anbetung
der Könige, der Kindermord und die Flucht nach Aegypten, geben
ausserdem Zeugniss, dass einzelne niederländische Künstler auch in
diesem Fach schon ein Menschenalter vor den van Eyck's sehr weit
vorgeschritten waren. Die sehr lebendigen und freien Motive, so
wie die wahren Formen sind hier oifenbar nach der Natur genom-
men, und so ist auch in den Gewändern, in der Art der Modelli-
rung, ein entschiedenes Bestreben nach Naturwahrheit zu erkennen.
Die ausdrückliche Benennung dieses Jean von Brügge als pietor,
während ein blosser Verfertiger von Miniaturen Illuminator genannt
"wird, beweist aber mit Sicherheit, dass er auch Bilder im Grossen
ausgeführt hat. Da nun Hubert__van Eyck, der, nach der gewöhn-
lichen Annahme im Jahr 1366, wahrscheinlich in Maaseyck, einem
Fleckchen unweit Mastricht, geborene Begründer der neuen Schule,
sicher schon früher als im Jahr 1412 in Brügge ansässig war, 2
konnte es kaum fehlen, dass er Werke jenes trefflichen Meisters
gesehen hat und dadurch in seiner Richtung gefördert worden ist.
Ebenso dürfte es keinem Zweifel unterliegen, dass er die Sculpturen
in dem benachbartenTournay aus eigner Anschauung gekannt und
auch daraus für seine künstlerische Bildung einen erheblichen Vor-
1 Näheres darüber in meinem Aufsatz im Deutschen Kunstblatt v. 1856 S. 268 ff.
9 Im Jahr 1412 wird er dort Mitglied der Brüderschaft der Maria mit den Strah-
lgxg. Carton. Les trois fräres van Eyck. 9:1.