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Buch.
Kapitel.
Höhe der Entwickelung in der grössten Reinheit. Bei'de11[talienern,
dem Hauptkunstvolk unter den romanischen Nationen, ist das Ver-
hältniss zur Kunst, wie zum Christenthum, ein ganz verschiedenes.
Die Eigenthümlichkeit ihrer kirchlichen Malerei bildet sich nämlich
aus ganz anderen Grundbedingungen hervor, als bei den durchaus
germanischen Niederländern. Der Grundbestand der Bevölkerung
in Italien ist der antike. Die eingewanderten germanischen Völker-
schaften bilden nur einen Theil derselben, welcher nur allmälig mit
jenem zu einer Einheit verschmilzt. Sgwohl das germanische Kunst-
naturell, als die germanische Auffassung des Christenthums erfuhr
daher von jener antiken Bevölkerung eine starke Modification. Ans-
serdem aber übten die zahlreichen, in dem Lande vorhandenen
Denkmäler antiker Kunst von Zeit zu Zeit einen entschiedenen Ein-
fluss auf die Art der Ausbildung ihrer Kunst? aus. Wenn nun diese
Bedingungen so glücklich zusammen wirkten, dass daraus in der
Malerei die höchsten Schöpfungen der ganzen christlichen Kunst
hervorgegangen, sind dieselben, doch, mit der antiken, namentlich
mit der griechischen Kunst verglichen, keineswegs so durchaus ori-
ginell, als jene Malerei der alten Niederländer, sondern erscheinen
vielmehr als eine Art von glücklicher Mittelbildung der antiken und
der christlich-germanischen Kunst. Darin aber, dass uns in diesen,
von allen fremden Einflüssen freien Bildern deraltniederliindi-
sehen Schule der Gegensatz des griechischen und germanischen
Kunstnaturells, als das der beiden Hauptstämme der Kultur der an-
tiken und modernen Welt, in einer Reinheit und einer Schärfe ent-
gegentritt, wie sonst nirgend, liegt eine hohe Bedeutung dieser
Schule für die allgemeine Kunstgeschichte. Während es für das
Kunstnaturell der Griechen charakteristisch ist, nicht allein die Bil-
dungen der idealen Welt, sondern selbst die Portraits, durch Ver-
einfachung der Formen und Hervorheben der bedeutendsten Theile,
zu idealisiren, gewinnen bei den alten Niederländern selbst die ideel-
sten Gestalten der Maria, der Apostel, der Propheten und Heiligen,
ein portraitartiges Ansehen, werden aber bei Portraiten selbst die
kleinsten Zufälligkeiten wiedergegeben. Während die Griechen die
verschiedensten Gegenstände der Natur, Flüsse, Quellen, Berge,
Bäume u. s. w., durch die menschliche Gestalt darstellen, bestreben
sich die Niederländer alle diese, bis zu den kleinsten Einzelheiten,
mit mögliehster Treue so wiederzugeben, wie sie sie ein der Wirk-
lichkeit gesehen haben. Der idealistisch-antropomorphisirenden Kunst