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III.
Buch.
Kapitel.
welches Erasmus im Jahr 1525 seinem Freunde, dem Kanzler Tho-
mas Morus zusehickte, um ihm eine Vorstellung von dem Wcrth
Holbeins zu geben, indem er ihm denselben bei seinem, schon in
um diese Zeit beabsichtigten Besuch Englands empfahl, und in Bezug
auf welches jener antwortete: "Dein Maler, mein theuerster Eras-
mus, ist ein wunderwürdiger Künstler," und ihm verspricht sich
seiner anzunehmen. ' Aus dem Jahr 1525 dürfte das trelfliche
Bildniss desselben Erasmus im Louvre sein, welches ihn in Profil
vorstellt. In den letzten Bildern, welche Holbein noch vor seinem
ersten Besuch von England, im Herbst des Jahrs 1526, in Basel
ausgeführt hat, gehört ohne Zweifel das schöne, zu Darmstadt im
Besitz der Frau Prinzessin Oarl von Hessen und bei Rhein befind-
liche Altarblatt (Fig. 46). Dieses stellt die in einer Nische stehende
heilige Jungfrau mit dem Jesuskinde auf dem Arm dar, welches
seine Hand über die unten zu beiden Seiten in Verehrung Knieen-
den , den schon oben erwähnten Bürgermeister Meier von Basel
und seine Familie, ausbreitet. In der Vereinigung der grössten
Wahrheit mit der grössten Schlichtheit, Anspruehlosigkeit, Reinheit
und Demuth in dem Kopf der Maria mit dem zu den Seiten herab-
fliessenden, goldnen Haar, feiert der deutsche Realismus in der
Form der, zur völligen Individualisirung ausgebildeten, Kunst seinen
höchsten Triumph. Gerade durch dieses ihr eigenthümliche Wesen
erscheint diese Maria würdig die reiche Krone als Himmelskö-
nigin zu tragen, welche ihr Haupt schmückt. Diesem entspricht
auch die einfache und natürliche Stellung ihrer schönen Hände.
In dem Christuskinde hat sich dagegen der Künstler nicht über sein
Modell, ein Kind von keineswegs ansprechendem, ja kränklichen
Aussehen, erhoben. 2 In den sämmtlichen Mitgliedern der vereh-
renden Familie ist das erste Gesetz des Meisters, die grösste, in
allen Theilen mit gewohnter Meisterschaft durchgeführte Wahrheit
gewesen, welches er sogar in dem mit vorgestrecktem Leibe knieen-
den Mädchen mit dem Rosenkranz aufUnkosten der Schönheit fest-
gehalten hat. In den Köpfen des Bürgermeisters kund der drei Frauen
lDie ganze Stelle des Briefes lautet in dem lateinischen Original: „Pictor
tuus, Erasme carissime, mirus est artifex, sed vereor, ne non sensurus sit Angliam
tam foecundam ac fertilem, quam sperarat. Qurinquam ne reperiat omnino ste-
rilem, quoad per me fieri potest, efficiam. Ex aula Greuwici 18 Dec. 1525."
3 Dieser Umstand hatte den Dichter Tieck auf den Gedanken gebracht, dass dieses
ein krankes, aber durch das Anrufen der Iilaria genesenes Kind der Familie,
dagegen das blühende Kind am Boden, das Christuskind darstellen solle. Dieses
ist indess, als mit der geheiligten Tradition im Widerspruch, nicht annehmbar.