210
III
Buch.
Kapitel.
den Vater, welcher den, am Kreuz zum Heil der Menschheit ster-
benden, Sohn vor sich hält, und den heiligen Geist in Gestalt einer
Taube. Von den ihn umgebenden Engeln halten einige Seinen
Mantel, andere die Leidenswerkzeuge. Um etwas tiefer rechts die
heilige Jungfrau, woran sich die weiblichen, links Johannes der
Täufer, an den sich die männlichen Heiligen anschliessen. Wieder
etwas mehr abwärts, in Verehrung knieend, eine grosse Schaar
von Gläubigen von jedem Alter, Stand und Geschlecht. Ganz
unten eine Landschaft von einer Helligkeit, einer Beobachtung der
Luftperspective, einer Zartheit der Vollendung, wie ich keine zweite
von Dürer kenne, und in einer Ecke derselben der Künstler, in
stattlichem Pelzmantel, mit wenigen, grossen Falten von treiilichem
Wurf, eine Tafel haltend, ausser seinem Monogramm, die Inschrift:
Albertus Durer. Noricus faciebat. anno a virginis partu 1511. Die
Auffassung des Gott Vaters ist sehr würdig. In dem Chrislms ist
das Leiden mehr hervorgehoben. Die Motive sind von grosser
Mannigfaltigkeit, die männlichen Köpfe zwar portraitaitig, und auch
so in den Trachten gehalten, doch sehr charakteristisch und an-
sprechend. Unter den Frauen finden sich zwar auch einige schöne
Köpfe, im Ganzen aber herrscht ein Typus von einem dicken Oval
und unangenehmen Profil vor, und hat auch der Ausdruck etwas
Verzwicktes. In dem Fleisch findet sich auch hier eine grosse
Mannigfaltigkeit der Töne, doch sind sie minder klar, als in dem
Bilde des Martyriums der Heiligen. Die Gesammtwirkung ist auch
hier bunt. Die Behandlung ist ungemein fein und geistreich, doch
mehr in seiner zeichnenden und lasirenden, als in der impastirenden
und verschmelzenden, Weise.
Nur um zwei Jahr früher hatte Raphael in dem Gemälde, die
Theologie (gewöhnlich die Disputa genannt) im Vatican, ein in
seinem geistigen Gehalt diesem sehr eng verwandtes Werk ausge-
führt. Ein Vergleich der Bedingungen, unter welchen beide Künstler
diese Werke malten, ist besonders geeignet, die grosse Verschie-
denheit in ihrer Lebensstellung zu zeigen. Während Dürer für den
ehrsamen Rothgiesser arbeitete und demgemäss den grossen Inhalt
seines Gegenstandes auf dem kleinen Raum einer Tafel von 4 Fuss
3 Zoll Höhe, 3- Fuss 10314 Zoll Breite aussprechen musste, malte
Raphael fir den Pabst, als den höchsten Fürsten seiner Zeit, und
konnte dem Flug seines Genius an einer grossen Wanddäche die
vollste Entfaltung geben. Darf es da Wunder nehmen, wenn Ra-