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Buch.
Kapitel.
Schatten des Steins mit ihren Reßexen, mit seltenster NVahrheit
wiedergegeben, sondern auch in dem Haupthaar, im Felle des
Täufers, mit Aufgeben der ihnen so geläufigen Naturwahrheit, die
conventionelle Behandlung beobachtet, wie die Natur des Steins
sie erforderte. Dasselbe gilt von den scharfen und wulstigen, die
Bewegung der Gestalten so wenig wiedergebenden, Falten der Ge-
wänder. Um die Wirkung der Statuen zu erreichen, ist auch der
Vortrag des Pinsels breiter. Nur in den Köpfen tritt die Eigen-
thiimlichkeit der Künstler wieder in ihrer ganzen Grösse auf. Der
auf das Lamm in seiner Linken deutende Johannes der Täufer
vereinigt mit einem edlen und würdigen Charakter eine grosse for-
melle Schönheit, und das letzte gilt ebenso von den jugendlichen
Zügen des milden und sanften Johannes dem Evangelisten, welcher
ruhig auf das, imter der Kraft seines Segens sich ohnmächtig krüm-
mende, aus seinem Kelche emporsteigende Ungethüm herabblickt.
Leider war es dem Hubert van Eyck nicht vergönnt, dieses
grossartige Werk in allen Theilen selbst auszuführen. Den 16. Sep-
tember 1426 starb er und wurde in der Familiengruft der Vyts
unter ihrer Kapelle in der Kathedrale bestattet. Nur auf Bitten
des Bestellers, Judoeus Vyts, entschloss sich sein viel jüngerer
Bruder und Schüler, Jan van Eyek," dasselbe in den noch fehlen-
den Theilen zu beendigen, womit er bis zum 6. Mai des Jahrs 1432
zu Stande kam. 1 Aus einer genauen Vergleichung aller Tafeln
dieses Altars mit den, als von Jan van Eyck allein herrührend,
sicher beglaubigten Bildern, ergibt sich, dass die folgenden
Theile in Zeichnung, Färbung, Art des Faltenwurfs der Gewänder
und Behandlung entschieden von ihm abweichen, mithin mit Siehe r-
heit seinem Bruder Hubert beigemessen werden können. Von der
inneren Seite der oberen Reihe: Gott Vater, Maria, Johannes der
1 Alles dieses erhellt aus folgender, auf den Rahmen der Aussenseiten der!
vier unteren Flügel befindlichen, gleichzeitigen Inschrift:
Pictor Hubertus e Eyek, major quo nemo repertus,
lncepit, pondusque Johannes arte, secundus
Frater, perfecit. Judoci Vyd prece fretus
VersV seXta. Mal Vos CoLLoCat aCta tVerJ.
Aus dem letzten Verse, einem Chronostichon, ergibt sich jene Jahrszahl 1432.
Diese höchst Wichtige Inschrift wurde im Jahr 1823 unter einer Ueberstrei-
chung mit griiner Farbe entdeckt, die darin fehlenden, erstevranderthalb Worte
der dritten Zelle über glücklich durch eine alte Abschrift, welche Louis de Bast
in Belgien aufgefunden hatte, ergänzt. Ueber eine Verschiedenheit der Interpunk-
tion in der zweiten Zeile, vergl. Carton, les trois freres van Eyck S. 57 ü". und
meine Anzeige dieser Schrift im Deutschen Kunstblatt von 1849 N0. 16 und 17,
und Hotho, die Schule von Hubert van Eyck Th. 2, S. 82.