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Sechstes
Buch.
Dritter Abfchnitt,
des Volkes. Alles wurde von oben herab nicht nur befchützt, fondern auch
angeordnet; alles wurde, nach gewiffen, bald conventionell werdenden Begriffen
von Wohlanfiändigkeit und Schönheit geregelt; und da das claflifche Alterthum,
deffen geiPcige Ueberlegenheit in der erften Hälfte des I7. Jahrhunderts noch
niemand zu beftreiten gewagt hätte, der franzöfifchen Gefellfchaft gerade damals
durch gefchickte Ueberfetzer näher gerückt War, fo wurde es von Anfang an
1:31:11; als felbftverftändlich angefehen, dafs wdie Antiker, unter welcher man im
Anrike- höheren Grade das Römerthum, als das noch weniger ergründete Griechenthum
verftand, dem neuen franzöfifchen Geiftesleben, befonders auf künfllerifchem
Gebiete, zur Richtfchnur zu dienen hatte. Freilich {iutzten die franzöfifchen
Gelehrten die Begriffe der Schriftfteller und Künftler von antiker Schönheit
fglgfflzääi-r nach ihren eigenen, vorgefafsten Meinungen zu. Sie fafsten diefelbe zunächft
Antike- von der Seite ihrer Regelmäfsigkeit, ihrer rhetorifch zugefpitzten Wendungen,
ihres aufserlichen Schwunges auf; {ie machten {ich gewiffe äfthetifche Schablonen
zurecht, aufserhalb derer ihnen jeder Mafsfiab fehlte; {ie begünftigten die ver-
{tandesmäfsige und gelehrte Correctheit auf Koften des freien Auffchwunges
Dääuffiläfil der Phantafie. Der volksthümliche alte vEsprit gauloisa litt unter diefen Ein-
flüffen natürlich Schiffbruch; nur hier und da tauchte er, unverwüftlich wie er
war, aus dem Schwalle oder dem Sande empor und wufste {ich in einigen
wenigen Fällen, wie in Molierds Comödien und in Lafontaines Erzählungen,
fogar anmuthig mit den Regeln des fiebzehnten Jahrhunderts zu vermählen.
ZELIiIFäZÄhiIISSr Doch mufs man auf allen Gebieten zwifchen der erfien und der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts unterfcheiden. In der erfien Hälfte wirken einerfeits die
Häägrärfies italienifchen Einfiüffe noch unmittelbar nach und laffen andererfeits die älteren
hunderts. nationalfranzöflfchen Elemente {ich noch ungezwungen gehen; erft in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts, erft im eigentlichen Zeitalter Ludwigs XIV., feiert die
akademifch-franzöfifche Richtung ihre Triumphe in Frankreich und im Auslande,
Ugjiiläglfeer Triumphe, die {ich darauf zurückführen laffen, dafs diefe Richtung ein Iheilfames
deäfirgßläwrfö- Gegengewicht gegen die Verwilderung darbot, welche der dreißigjährige Krieg
Cultur. im Volksleben Mitteleuropas hinterlaffen hatte. Claude Perraults mächtige,
flgrsdzflg; mit ihrer langen Reihe hoher korinthifchen Säulenpaare abfichtlich antikifirende
Aeurse- öftliche Hauptfaffade des Louvre, Jules Hardouin Mansarts {iattlich gekuppelter
rungeni Invalidendom zu Paris, {o wie {eine Schlöffer zu Grofs-Trianon und zu Verfailles,
Le Nötre's fteife, aber prächtige Gartenanlagen, die {ich doch, da die Archi-
tektur allmälig in ihnen ausklingt, mit innerer Nothwendigkeit an die aus-
gedehnten Schlofsbauten anfchliefsen, Binettes, des königlichen Leibperruquiefs,
rAllongeperücker, die rafch ihren Siegeszug durch die Welt antrat, alle diefe
Dinge flnd der Ausflufs derfelben pathetifchen und doch innerlich nüchternen,
vermeintlich antikifirenden und doch in ihrer Art neuen und für ein Jahrhundert
bahnbrechenden Richtung der franzöüfchen Cultur jener Tage. Das deutlichfte
Spiegelbild ihrer Entwickelung giebt die Literatur.
Lgijafäjffgs Freilich hatte {chon an der Wende der Jahrhunderte Fr. de Malherbe
flelfaeälrfte" die neufranzöfifche Verskunft zur höchiien Glätte und Correctheit gebracht.
hulllrifräi- Daneben aber erhielt {ich in dem Satiriker Mathurin Regnier (1- 1613) noch
Malherbe. ziemlich weit in das Jahrhundert hinein eine frifchere, keckere, aber auch
weniger gefeilte und elegante Richtung, entwickelte fich in der italifirenden