172
Sechstes
Buch.
Edler
Abfchnitt.
Mich el-
angelo Merifx
da Cara-
vaggio.
Seine
Richtung.
Seine
Bedeutung.
Sein Na-
turahsmus
Naturftudien verbundenen, aufrichtig gemeinten Wiederanknüpfung an die
frifcheften und lebendigfien Meifter der grofsen Vergangenheit und auf dem
Wege rückfichtslofer Verfchmähung der Erfahrungen früherer Zeiten und kühner
Eroberung einer felbftandigen, neuen Anfchauung und Auffaffung der Welt
der Erfcheinungen. Jener war der Weg des Talentes, diefer derjenige des
Genies. Was auf dem erfteren Wege zu erreichen war, hatten die Carracci
und ihre Nachfolger erreicht; und wir haben gefehen, dafs die Nachwelt alle
Urfache hat, {ich der Leiftungen, zu denen ihr Weg diefe MeiPter führte, zu
erfreuen. Den zweiten Weg betrat Jlizrlzzalavzgrrrla jlrlrriji 1) (Meriflo, Amerigi,
Merigi, Amerighi) da Caravaggia, ficher ein Genius, aber kein fo reiner, klarer,
felbftlofer Genius, dafs er allein die hohen Ziele, die ihm vorfchwebten, in
einer für alle Zeiten mafsgebenden Weife erreicht hätte, vielmehr ein wilder,
leidenfchaftlicher Geift, der die Wahl feiner Mittel nicht immer mit ruhiger
Sicherheit beherrfchte, immer aber bahnbrechend wirkte und daher von weit
gröfserem Einflufs auf die Kunftentwicklung des ganzen fiebzehnten Jahrhun-
derts wurde, als man nach der geringen Zahl eigentlicher Schüler, die er
gebildet, annehmen follte. Seines Zieles war er flch eben jederzeit voll be-
wufst 2); es galt, die Natur mit eigenen Augen, den neuen Augen der neuen
Zeit anzufehen, es galt, nur der fo angefehenen Natur und dem eigenen Triebe
zu folgen, es galt, nicht nur dem Manierismus der veralteten Meifter, fondern
auch dem Eklekticismus der allmächtig erfcheinenden Schule von Bologna einen
unerbittlichen Krieg zu erklären; und wenn er perfönlich in diefem Kampfe,
den er, leidenfchaftlich wie er war, felbft aufs perfönliche Gebiet hinüberzu-
ziehen pfiegte, auch zu Grunde ging, fo wurden feine Grundfatze doch das
Feldgefchrei, unter dem die beften Maler ganz Europas im fiebzehnten jahr-
hundert ihre Siege erfochten- Nichts ift daher verkehrter, als die Bedeutung
diefes Meifters nur mit dem Mafsfitabe zu meffen, den feine felbft in feindlichen
Richtungen befangenen erften Biographen, Baglione und Bellori3) bei aller
Anerkennung feines Ruhmes und feiner Vorzüge an ihn anlegten, oder kein
anderes Urtheil über ihn zu fallen, als die aus der erfien Hälfte unferes jahrhun-
derts mit feiner Abneigung gegen alles wStillofee hervorgewachfenen, in anderen
Dingen noch immer mafsgebenden grofsen modernen Kritikerß)
Ohne Zweifel ift es richtig, Michelangelo da Caravaggio an die Spitze der
naturaliftifchen Meifter des fiebzehnten Jahrhunderts zu Hellen; denn im Ver-
gleich zu den Schöpfungen der Manieriften und felbft der Eklektiker fcheinen
I) Dies oder nMefifiQa der eigentliche Familienname nach A. Fertolatti: Artiüi lombardi a
Roma, Milano 1881, p. 49 ff.
2) Im Jahre 1603 fagte er, von 61'011. ßßglivne wegen Beleidigung verklagt, in Rom vor Ge-
richt aus, dafs er unter einem wpittore valenthuolnou einen Meifter verPcehe nche sappi depingere bene
et imitar bene le cose naturali." Beftolütn. a. a- 0. n, p. 58_59.
3) Bagäone, Le Vite etc., Rom 1642, p. 136-139, _BeZ!0r1', Le Vite etc., Rom 1672,
p. 201-216.
4) Eine unbefangene kritifche Würdigung der Verdienfie des Meiiiers findet {ich übrigens fchon
bei M Ungßr, Kritifche Forfchungen im Gebiete der Malerei. Leipzig 1865, S. 159-178. Die
befize moderne Biographie des Meifiers (von Fr. WC Ungar und f, Meyer) in Meyers A11g_ Kijnfijer.
lexikon, Bd. I, p. 613-623, nebii: dem Kupferfiich-Nachtrag von W Sfllillidf u. W Engelmann.
FCTIICT Ü. Eifemnannr Arbeit in Dalzmzfs Kunft und Künfller.