Die Bliithezeit der ita1ienifchen Malerei.
647
einen kühn herausgegrisfenen Moment. Während sie die rechte Seite des Bils
des einnimmt, sehen wir links die lebhaft bewegte Gruppe der durch die Ers
scheinung geängsteten oder getrösteten Zuschauer, durch welche hindurch Papst
Julius II. gerade von ftattlichen Trägern in den Tempel getragen wird, ein
Anachronismus, welcher sich der Idee des Triumphes der Kirche immerhin
vortrefflich anpasste. Das zweite Bild Raphaels in der Stanza dlEliodoro, die
xsMeffe von B01fek1acs, d. h. die Darstellung der Bekehrung eines zweifels vgieZ311r:J:
süchtigen deutschen Priesters, welcher durch das Bluten einer Hostie bei der
Messe zu Bolsena vom VVunder der Transsubstantiation überzeugt wurde, wirkt
heutzutage wie eine im Voraus gegebene Antwort des Vatikans auf die Lehren
Calvin7s. Dieses Bild beHndet sich wieder an einer der Fensterwände und
Raphael hat die räumliche Schwierigkeit hier ähnlich gelöst, wie auf dem Bilde
des Parnasses. Den erhöhten Chor mit dem Hochaltar, vor dem das Ereigs
nifs sich abspielt, hat er über das Fenster, die emporführenden Stufen, auf
denen das staunendbewegte Volk sich drängt, an beide Seiten desselben vers
legt. Papst Julius 1I. kniet betend dem Altar gegenüber, so dass es scheint,
als habe sein Gebet das Wunder vollbracht. An genialer Schönheit der Ans
ordnung, an sprechender Wahrheit der Charaktere und warmer Tiefe der ges
diegenen Farbenpracht ist dieses Gemälde vielleicht das bedeutendste der
ganzen Reihe. Dem Heliodorusbilde gegenüber hat Raphael sodann die Ges
schichte erzählt, wie Attila, der Hunnenkönig, der mit seiner berittenen Di;eZjF;F;ks
Horde die rechte Seite des Bildes einnimmt, durch die Ueberredungskunst Atr11ass.
Papst I.eo7s I., der mit seinen Kardinälen von links heranreitet, noch mehr aber
durch die gleichzeitige Erscheinung der Apostelgestalten Paulus und Petrus
über dem Haupte des Papstes vom Angriff gegen Rom zurückgehalten wird.
Der Papst trägt die Züge Leo7s X., unter dem dieses Bild erst vollendet wurde.
Die plötzliche Verwirrung auf der Seite der Hunnen und die glaubensstarke
Ruhe aus der Seite des Kirchenfürsten sind in einen überzeugenden Gegensatz
gebracht. Das vierte Bild dieses Zimmers endlich hatte sich wieder mit der
unregelmässigen BildHäche einer der Fensterwände abzufinden, und nirgends
hat der Meister in höherem Grade als hier die Noth zur Tugend gemacht. II
Die Befreiung Petri aus dem Kerker ist dargestellt CFig. 373J.
Kerker, dessen gewaltiges Eisengitter uns einen Blick inls erleuchtete Innere
gestattet, ist über dem Fenster angebracht; und erleuchtet ist das Innere vom
Himmelslicht, welches der Engel ausstrahlt, der im Begriffe ist die Ketten des
im VVinkel kauernden Gefangenen zu lösen. Die Treppen, welche vom Kers
ker herabfijhren, sind rechts und links neben dem Fenster angebracht; auf ihnen
die schlafenden WVächter; ein Kriegsknecht mit brennender Fackel weckt die
Schläfer der linken Seite, an der rechten führt der Engel den Apostel an der
Hand in7s Freie. Mehr als alle bewundernswerthen Einzelheiten dieses Bildes
packte die Zeitgenossen die virtuose Behandlung des nächtlichen Dunkels,
welches an mehreren Stellen von dem verschiedenen Lichte des Mondes, der
Fackeln und des Himmelsglanzes, der den Engel umsliesst, magisch erhellt wird.
II Eine Komposition aus der Apoka1ypfe, welche, nach der Form zu urtheilen, urfpriing1ich für
diefe VVa11c1 bestimmt gewesen, bewahrt die Lo11vressammlung, jedoch nur eine Kopie, abgebildet bei
JlXJ7JZ72i2 a. a. O. p. 374.